10.10.2022
Scherbakowa: "Gefährlichste Situation seit dem Zweiten Weltkrieg"

Leipzig (epd). Die russische Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa sieht Europa nach eigenen Worten in der gefährlichsten Situationen seit dem Zweiten Weltkrieg.

Über die Zukunft zu sprechen, sei schwierig, „weil wir es hier mit einer bösartigen Unberechenbarkeit zu tun haben, die den Weltfrieden bedroht“, sagte sie am Sonntagabend in Leipzig mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Scherbakowa, Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial, hielt die „Rede zur Demokratie“ beim Gedenken an den friedlichen Massenprotest gegen das DDR-Regime am 9. Oktober 1989 in Leipzig.

Die Stadt erinnerte mit dem traditionellen Dreiklang aus Friedensgebet, „Rede zur Demokratie“ und Lichtfest an die friedliche Revolution. Die Veranstaltungen widmeten sich in diesem Jahr in besonderem Maße dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Das Gedenken stand unter dem Titel „Preis der Freiheit“.

Sich als Historikerin mit Russland zu beschäftigen bedeute, mit Taten derjenigen konfrontiert zu werden, „die offensichtlich nichts aus der Geschichte gelernt haben“, sagte Scherbakowa. Sie verurteilte den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine scharf. Die von ihr mit initiierte und inzwischen in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation Memorial erhält gemeinsam mit anderen den diesjährigen Friedensnobelpreis. Die Organisation war Ende der 1980er-Jahre gegründet worden, um die Verbrechen des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion aufzuarbeiten und die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten.

Auf die Auszeichnung von Memorial reagierte Scherbakowa mit gemischten Gefühlen: „Wir empfangen den Preis schweren Herzens“, erklärte sie. Das Ziel, durch Aufarbeitung der Verbrechen des damaligen sowjetischen Staates solche Taten künftig zu verhindern, sei nicht erreicht worden, sagte sie. Während des Friedensgebets in der Nikolaikirche kamen auch geflüchtete Menschen aus der Ukraine zu Wort.

Zu den Gedenkveranstaltungen war auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gekommen. Gemeinsam mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, und Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (beide SPD) entzündete Kretschmer Kerzen für die große Kerzeninstallation „89“ im Nikolaikirchhof. Die Menschen in Leipzig hätten damals bis nach Erfurt gewirkt, sagte der aus Thüringen stammende Schneider. Mit den Lichtern heute werde ein Zeichen für Demokratie gesetzt, ergänzte er.

Jedes Jahr bringen Besucher die bedeutsame Jahreszahl mit Tausenden Teelichtern zum Leuchten. In der gesamten Innenstadt waren am Sonntagabend zudem Lichtinstallationen von drei internationalen Künstlerteams aus Polen, Deutschland und Frankreich zu sehen.

Die Ereignisse am 9. Oktober 1989 in Leipzig gelten als Schlüsselmoment der friedlichen Revolution. Mehr als 70.000 Menschen zogen nach dem Friedensgebet von der Nikolaikirche aus über den Leipziger Innenstadtring. Der Protest blieb friedlich, in der Woche darauf nahmen bereits 150.000 Menschen an der Demonstration in Leipzig teil. Die Berliner Mauer fiel wenige Wochen später.


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