16.05.2025
Abschied von Holocaust-Überlebender Margot Friedländer
Berlin (epd). Unter großer Anteilnahme aus Politik und Gesellschaft ist am Donnerstag die mit 103 Jahren gestorbene Holocaust-Überlebende Margot Friedländer (1921-2025) auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt worden.
Unter den Trauergästen waren unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Friedrich Merz und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (alle CDU) sowie der israelische Botschafter Ron Prosor und Altbundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
Die 1921 in Berlin geborene Friedländer war zwei Tage nach ihrem letzten öffentlichen Auftritt am vergangenen Freitag gestorben. Sie wurde in einem Sarg neben ihren Großeltern auf Europas größtem noch bestehenden jüdischen Friedhof beigesetzt. Zuvor nahmen Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter in einer Trauerzeremonie Abschied von der Berliner Ehrenbürgerin.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, Gideon Joffe, sagte, die Holocaust-Überlebende habe Unvorstellbares erlebt. Und trotzdem sei sie aus dieser Vergangenheit jemand geworden, der nicht hassen, sondern erinnern wollte.
Auf Friedländers ausdrücklichen Wunsch wurde ihre Trauerzeremonie von einem liberalen und einem orthodoxen Rabbiner gestaltet. Das ist ungewöhnlich für die unterschiedlichen Strömungen. „Wir nehmen Abschied von einer kleinen, großen Frau“, sagte der liberale Rabbiner Jonah Sievers von der Heimatgemeinde Friedländers, der Synagogengemeinde Pestalozzistraße: „Oft hat sie mit einem Satz mehr bewegt, als andere mit einer ganzen Rede“, sagte Sievers mit Blick auf ihre mahnenden Worte „seid Mensch!“
Der orthodoxe Berliner Rabbiner Yehuda Teichtal nannte Friedländers Leben eine Geschichte der Stärke und der unzerbrechlichen Menschlichkeit: „Du hast uns beigebracht, dass jede einzelne Person, die Welt menschlicher und wärmer machen kann.“
Als junge jüdische Deutsche war Friedländer in der NS-Zeit in das KZ Theresienstadt verschleppt worden. Dort wurde sie von der Roten Armee befreit. Eltern und Bruder wurden von den Nazis ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte sie in die USA und kam nach mehr als sechs Jahrzehnten im Alter von 88 Jahren zurück nach Berlin. Hier engagierte sie sich als Zeitzeugin, um die Erinnerung an die NS-Verbrechen wachzuhalten und für die Demokratie zu werben.
Einer ihrer engsten Begleiter in ihrer Berliner Zeit war der Autor und Kolumnist Leeor Engländer, heute Kuratoriumsmitglied in der Margot-Friedländer-Stiftung und eine Art Enkelsohn für die Holocaust-Überlebende. In bewegenden Worten schilderte er, welche mühsame und harte Arbeit das unermüdliche Engagement Friedländers war und mit welchen Dämonen aus der Vergangenheit sie zeitlebens zu kämpfen hatte.
So sei ihre Autobiografie von 2008 „Versuche, dein Leben zu machen“, von deutschen Verlagen abgelehnt und ein US-Dokumentarfilm über ihr Leben von 2004 „Don't Call it Heimweh“ nicht in das „Berlinale“-Programm aufgenommen worden. Trotzdem sei sie immer optimistisch gewesen - bis zum Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem Ausbruch von offenem Judenhass auf deutschen Straßen. So habe es damals auch begonnen, habe Friedländer immer wieder gemahnt.
Die unbeugsame Berlinerin | Margot Friedländer ist am Donnerstag beigesetzt worden
Von Sigrid Hoff (epd)
Berlin (epd). Eine zierliche alte Dame, elegant gekleidet, mit großen wachen Augen unter dem widerspenstigen weißen Haar - die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer war noch mit mehr als 100 Jahren in all ihrer Zartheit eine beeindruckende Persönlichkeit. Am Donnerstag ist die gebürtige Berlinerin unter großer Anteilnahme von Politik und Gesellschaft auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee neben dem Grab ihrer Großeltern beigesetzt worden. Sie war am vergangenen Freitag im Alter von 103 Jahren gestorben. Bis zuletzt hatte sie sich als Zeitzeugin unermüdlich gegen ein Vergessen der NS-Verbrechen engagiert.
Wenn sie zu sprechen begann, Auskunft über ihr Leben gab, vergaß man ihr hohes Alter sofort. Spielend zog sie Zuhörende in den Bann, zuletzt noch vor wenigen Tagen im Roten Rathaus in Berlin, wo sie auf der Gedenkveranstaltung des Senats zum 80. Jahrestag des Kriegsendes appellierte: „Bitte seid Menschen!“
Am Freitag vergangener Woche hätte sie in ihrer Geburtsstadt, deren Ehrenbürgern sie seit 2018 war, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland erhalten sollen. Dazu ist es nicht mehr gekommen.
Margot Friedländer wurde am 5. November 1921 geboren, verbrachte eine glückliche Kindheit und musste dann als Jüdin die leidvolle Erfahrung der Verfolgung durch die Nationalsozialisten machen. Die Eltern und ihr Bruder wurden Opfer der Schoah, sie selbst überlebte nur knapp.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Margot Friedländer mit ihrem Mann nach New York gegangen, sie besaß die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Erst 2003 besuchte sie erstmals wieder ihre Heimatstadt, 2010 kehrte sie endgültig nach Berlin zurück. Ressentiments und Verbitterung waren ihr fremd. Sie sagte gern: „Ich bin so froh, in einer so schönen Stadt geboren zu sein, ich war so glücklich hier zu sein, ich konnte atmen, es war mein Berlin.“
Geboren wurde sie als Margot Bendheim in Berlin-Kreuzberg und wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf. Ihr Vater besaß ein Geschäft im Modeviertel am Hausvogteiplatz. Ab 1933 bekam sie als Jugendliche die politischen Veränderungen mit, Verwandte und Freunde emigrierten. Ihr Vater, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, entschloss sich erst 1939, in letzter Minute, nach Belgien zu fliehen. 1942 wurde er ermordet.
Nach ihrer Schulzeit besuchte Margot Friedländer eine Modezeichenschule. Als sich die Eltern 1937 scheiden ließen, begann sie eine Schneiderlehre. Mit der Mutter und ihrem jüngeren Bruder zog sie zunächst in eine Pension, ab 1939 lebte die Familie bei den Eltern der Mutter.
1941 wurden sie in eine sogenannte „Judenwohnung“ eingewiesen. Die beiden Frauen waren nicht zu Hause, als Ende Januar 1943 die Gestapo klingelte und den Bruder abholte. Daraufhin stellte sich die Mutter freiwillig der Polizei, sie wollte den Sohn nicht allein gehen lassen. Beide wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Kurz zuvor hatte die Mutter einer Nachbarin eine Handtasche mit einer Bernsteinkette und einem Notizbuch für die Tochter übergeben. Ihre Botschaft: Versuche, dich zu retten. Jahrzehnte später erzählte Margot Friedländer: „Ich könnte mir vorstellen, dass meine Mutter dachte, ich sei stark genug. Ich war vielleicht sogar als junges Mädchen draufgängerisch. Ich kann mir vorstellen, dass meine Mutter gehofft und gebetet hat, dass ich es schaffe.“
Sie war 21 Jahre alt, riss sich den Judenstern vom Mantel, färbte sich die Haare rot, ließ sich sogar die Nase operieren, um weniger „jüdisch“ auszusehen, und tauchte unter. 16 Menschen haben ihr geholfen, immer wieder neue Verstecke zu finden. „Sie haben immer versucht, mir ein Bett zu geben, mir ein Essen zu geben“, hat sie darüber gesagt: „Man brauchte nicht mit den Menschen politisch über Bücher, Musik zu sprechen. Man hat gekämpft, um zu überleben, diese Menschen auch.“
15 Monate lebte sie im Untergrund mit ständig wechselnden Aufenthaltsorten. Die Kette und das Notizbuch behielt sie immer bei sich. Im April 1944 wurde sie bei einer Ausweiskontrolle auf dem Kurfürstendamm aufgegriffen und dann ins KZ Theresienstadt deportiert. Dort traf sie ihren späteren Mann, Adolf Friedländer, den sie bereits aus Berlin kannte. Beide überlebten und ließen sich 1945 noch im Lager von einem Rabbiner trauen. 1946 emigrierte das Paar in die USA.
Mehr als zehn Jahre nach dem Tod ihres Ehemannes entschied sich Margot Friedländer mit 88 Jahren, nach Berlin zurückzuziehen. Seither sprach sie auf unzähligen Veranstaltungen über ihr Leben, redete Politikern ins Gewissen. Tausende von Schülerinnen und Schülern zog sie mit ihren Erfahrungen im NS-Deutschland und ihrem Kampf um das Überleben in den Bann.
Ihre Mission, so formulierte sie immer wieder, sei das Weitergeben ihrer Geschichte insbesondere an junge Menschen. „Ich spreche für die, die es nicht geschafft haben“, betonte sie dabei: „Was ich jetzt mache, ist für die Jugend. Sie soll wissen: Was war, das können wir nicht mehr ändern, aber es darf nie wieder geschehen.“
Den zunehmenden Antisemitismus, das Erstarken des Rechtsextremismus beobachtete sie mit Sorge und Trauer. Die Angst, die viele Jüdinnen und Juden heute wieder empfinden, könne sie verstehen, sagte sie unlängst in einem Interview: „So hat es damals auch angefangen. Doch weil wir ja sehr jung waren, haben wir es nicht geglaubt.“ Hass war ihr fremd, sie appellierte, sich für alle einzusetzen, denen Unrecht widerfährt: „Seid Menschen!“
Margot Friedländer hat viele Auszeichnungen erhalten. „Sie hat unserem Land Versöhnung geschenkt, trotz allem, was die Deutschen ihr als jungem Menschen angetan hatten“, erklärte Bundespräsident Steinmeier nach ihrem Tod: „Für dieses Geschenk können wir nicht dankbar genug sein.“
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