01.10.2019
Triumph der Gewaltlosigkeit | Vor 30 Jahren demonstrierten in Leipzig 70.000 Menschen für mehr Freiheit in der DDR

Von Johannes Süßmann (epd) Es hatte sich in Leipzig einiges angestaut im Laufe des Jahres 1989. Öffentliche Proteste nahmen zu: ein "Pleiße-Gedenkumzug" zur Umweltzerstörung und ein Straßenmusikfestival im Juni, der "Statt-Kirchentag" im Juli. Dann die Sommerpause mit massenhaften Ausreisen in den Westen.

"Das Land blutete irgendwo aus, und da haben wir gesagt, dem müssen wir etwas entgegensetzen", erinnert sich der 57-jährige Uwe Schwabe, Leipziger und DDR-Bürgerrechtler. Am 4. September sollte es so weit sein.

Es ist ein sogenannter Messemontag: Westliche Unternehmen präsentieren zweimal im Jahr ihre Produkte in Leipzig. Journalisten und Kamerateams aus Westdeutschland sind in der Stadt, brauchen keine zusätzliche Akkreditierung. Die Bürger der Protestbewegung wissen das - und mobilisieren nach dem montäglichen Friedensgebet in der Nikolaikirche zum Protest. Zwei mutige Frauen halten ein Transparent hoch: "Für ein offenes Land mit freien Menschen". Es ist die erste Montagsdemonstration. Die Bilder laufen abends in der "Tagesschau".

"Das haben auch in der DDR Tausende gesehen", erklärt Schwabe - eine "wahnsinnige Mobilisierung" sei die Folge gewesen. Wer etwas verändern wollte, habe nun gewusst, "dass er montags um 17 Uhr zur Nikolaikirche gehen muss". Die Zahl der Montagsdemonstranten wächst rasant - bis auf 25.000 am 2. Oktober.

Dann kommt der 7. Oktober: Republikgeburtstag. Die DDR wird 40 - und SED-Chef Erich Honecker verkündet im Berliner Palast der Republik das "Weiter so". Nicht ein Wort fällt zu den immensen wirtschaftlichen oder ökologischen Problemen im Land, zu möglichen Reformen gar.

Derweil protestieren vor dem Palast Tausende, es kommt zu Zusammenstößen mit der Polizei. Der sowjetische Staatsführer Michail Gorbatschow, der in der Heimat längst die Wende eingeleitet hat, verlässt das Bankett vorzeitig. In Leipzig werden zugleich Proteste gewaltsam aufgelöst; im vogtländischen Plauen kommt es zur ersten regionalen Massendemonstration mit 15.000 Teilnehmern.

Unter diesen Eindrücken geht Leipzig in den 9. Oktober, und schon am frühen Nachmittag ist klar: Es wird voll. Viele reisen an, aus Zwickau, Erfurt, Karl-Marx-Stadt. Gerüchte kursieren: In Krankenhäusern ständen Blutkonserven und Extrabetten bereit, am Stadtrand parkten Panzer. Noch am 6. Oktober hatte die "Leipziger Volkszeitung" einen Kampfgruppen-Kommandeur mit den Worten zitiert, man sei bereit, den Staat "wirksam zu schützen (...) wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!".

Die Staatsmacht scheint entschlossen, den Protest niederzuschlagen. Erst im Juni waren chinesische Sicherheitskräfte brutal mit Panzern und Gewehren gegen die Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz in Peking vorgegangen. Unzählige Menschen wurden getötet.

"Über allem schwebte daher die Angst vor der chinesischen Lösung", erinnert sich 30 Jahre später Gisela Kallenbach. Die damals 45-jährige dreifache Mutter hat sich am Nachmittag einige von insgesamt 30.000 Flugblättern geholt. Ihr Inhalt: absoluter Gewaltverzicht. Kallenbach verteilt den Aufruf in der Innenstadt - bis ihr ein Mann auf die Schulter tippt: "Polizei, mitkommen!"

Kallenbach reagiert selbstbewusst: "Wohin soll ich denn mitkommen?" Sofort bildet sich eine Traube von Menschen, die sich weigern weiterzugehen: "Wir wollen jetzt wissen, was mit der Frau passiert." Der Polizist führt Kallenbach zu einer Gruppe Kollegen, "mit sanfter Gewalt", erinnert sie sich. Auch dort ringsum Bürger - und plötzlich darf Kallenbach gehen. Der Druck der Masse, er siegt. Und Kallenbach verteilt weiter Flugblätter.

Nach dem Friedensgebet, das erstmals in vier evangelischen Kirchen gleichzeitig stattfindet, sammeln sich die Menschen auf dem heutigen Augustus-, damals Karl-Marx-Platz. Angespannte Stille wechselt sich ab mit "Gorbi, Gorbi"-Rufen - sie wollen Reformen nach Gorbatschows Vorbild. Manche intonieren die "Internationale".

"Allen war, volkstümlich gesagt, sehr mulmig zumute", erinnert sich der Kabarettist Bernd-Lutz Lange in seinem gerade erschienenen Buch "David gegen Goliath". Dann tönt aus den öffentlichen Säulen des Stadtfunks der Aufruf der "Leipziger Sechs" - unter ihnen neben Lange auch Gewandhauskapellmeister Kurt Masur und drei SED-Bezirksfunktionäre. Der Inhalt: Bleibt besonnen, damit ein friedlicher Dialog möglich wird.

Als sich die etwa 70.000 Demonstranten dem Hauptbahnhof nähern, ist von der dortigen Einsatzzentrale der Sicherheitskräfte nichts mehr zu sehen. Denn der diensthabende Polizeichef Helmut Hackenberg wird von der Berliner SED-Riege alleingelassen; Stasi-Minister Erich Mielke ist nicht erreichbar. Kurz nach halb sieben ruft Hackenberg seine Leute schließlich zum "Zurückziehen" auf, zur "Eigensicherung". Die Demonstranten ziehen unbeschadet um den Ring.

Dass es friedlich blieb, ist angesichts der in der DDR nie dagewesenen Zahl von Demonstranten bis heute ein Wunder - und die Voraussetzung für das Gelingen der friedlichen Revolution. Er habe, berichtet Uwe Schwabe, durchaus Leute gekannt, die Schlagstöcke im Auto hatten, um sich im Zweifel zu wehren. Und Polizeichef Hackenberg habe ihm vor zwei Jahren erzählt: "Wenn vonseiten der Demonstranten Gewalt gegen uns ausgeübt worden wäre, hätten wir zurückgeschlagen."

So jedoch machte sich am Abend des 9. Oktober vor allem Erleichterung breit - und das Gefühl, den Durchbruch geschafft zu haben. "Uns war sofort klar, dass man das so leicht nicht mehr zurückdrehen kann, ohne massiv Gewalt anzuwenden", sagt Schwabe: "Für uns war das schon ein Tag der Entscheidung." Bis zum Mauerfall vergingen noch 31 Tage.

"Die Kirche hat eine riesengroße Rolle gespielt" | Drei Fragen an den Leipziger Ex-DDR-Bürgerrechtler Uwe Schwabe

epd-Gespräch: Johannes Süßmann

Leipzig (epd). Seit 1982 gab es in der Leipziger Nikolaikirche jeden Montag Friedensgebete. 1989 wurde das evangelische Gotteshaus zum zentralen Ort der friedlichen Revolution in der DDR. Uwe Schwabe, damals Mitte 20 und kirchenfern, war ab 1984 regelmäßig dabei. Denn die evangelischen Kirchen boten jungen Andersdenkenden Rückzugsräume, die es sonst nicht gab.

epd: Wie wurden Sie Teil der von der Nikolakirche ausgehenden Protestbewegung?
Schwabe: Mich hat 1984 einfach mal jemand dorthin mitgenommen - und das war ein Glücksfall. Ich bin kein Christ, aber man traf dort auf junge Leute, die ganz anders tickten und nicht nur alles nachbeteten, was von oben verlangt wurde. Die redeten ganz offen über gesellschaftliche Probleme und wollten wirklich etwas verändern. Für mich war das wie eine Schule der Demokratie, in der man gelernt hat, andere Meinungen zuzulassen und Argumente auszutauschen.
epd: Wie ist es gelungen, diesen Geist der Kritik, auch des Protests, in die Öffentlichkeit zu tragen?
Schwabe: Wir haben Ende der 80er Jahre gesagt, dass wir Demonstrationen in der Öffentlichkeit machen müssen. Die Überlegung war, wie man die Menschen emotional erreichen kann. Da bot sich das Umweltthema an, denn das betraf jeden. Wir haben dann 1988 den ersten Pleiße-Gedenkumzug organisiert. Demonstration durfte das nicht heißen, denn die waren verboten. Die Pleiße war damals ja im Grunde gar kein Fluss mehr, war in einem katastrophalen Zustand und verlief zum Teil in Rohren. Das war also ein Umzug im Gedenken an einen Fluss, den es kaum noch gab. Es kamen ungefähr 300 Leute. Für uns war das ein Symbol, dass es die Bereitschaft gab, öffentlich gegen Missstände in diesem Land aufzutreten.
epd: Diese und weitere Aktionen, auch die Montagsdemonstrationen, gingen im Ursprung von der Kirche aus, speziell von der Nikolaikirche. Welche Bedeutung hatte die Kirche für die friedliche Revolution?
Schwabe: Die Kirche hat eine riesengroße Rolle gespielt. Natürlich gab es auch Pfarrer, die jeden Protest abgelehnt haben und nie Räume zur Verfügung gestellt haben. Genug andere haben es aber getan - und das war eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir uns überhaupt versammeln konnten. Es gab in der DDR viele Menschen, die eigentlich Journalisten oder Juristen werden wollten, aber gesagt haben, unter diesen Umständen in diesem Land können sie das nicht machen. Die wurden dann oft Theologen, da hatte man eine gewisse Freiheit und die Ausbildung war staatsfern. Dadurch sind dann in der Kirche später viele Gruppen entstanden - und das war eine Grundbedingung für das, was dann zur Wendezeit passiert ist. Ohne die evangelische Kirche wäre das nicht möglich gewesen.

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