31.10.2020
Von Luthers Freiheitstraktat zum Tempolimit | Bodo Ramelow und Heinrich Bedford-Strohm diskutieren in Gotha über den Freiheitsbegriff gestern und heute

Gotha (epd). Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat die vor 500 Jahren erschienenen Hauptschriften von Martin Luther (1483-1546) als eine der Grundlagen des modernen Rechtstaats gewürdigt.

Zugleich warnte der Linken-Politiker am Vorabend des Reformationstages bei einer Podiumsdiskussion mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, vor einer Überhöhung des Reformators. Dagegen sprächen schon seine Äußerungen zum Platz der Frauen in der Gesellschaft oder die antisemitischen Ausfälle am Ende seines Lebens, sagte er am Freitagabend im Gothaer Augustinerkloster. Anlass für das Gespräch des EKD-Ratsvorsitzenden und des Linken-Politikers Ramelow war das Erscheinen von Luthers Traktat "Von der Freiheit eines Christenmenschen" im Jahre 1520, also vor 500 Jahren. Eine Erstauflage der Schrift, die seit 2015 zum Unesco-Weltdokumentenerbe zählt, wird in der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrt.

Bedford-Strohm bezeichnete das Werk als eines seiner absoluten Lieblingsbücher. Aus keiner anderen Schrift habe er bei den vielen Vorträgen und Predigten im Reformationsjubiläumsjahr 2017 so oft zitiert. Darin appelliere Luther an die Einsicht der Menschen: "Du kennst doch selbst diese Not. Du weißt doch, wie sehr du dir selbst wünscht, dass die anderen dir beistehen. Also öffne dein Herz genauso für die anderen, wie du selbst das in der gleichen Situation erhoffst." Für den bayerischen Landesbischof ist mit diesem Appell aber keine Aufforderung zu Aufopferung oder Selbstverleugnung verbunden: "Das ist ein Appell an die Einsicht aller Menschen guten Willens", erklärte er.

Ramelow spannte einen historischen Bogen von der Reformation über die Arbeiterführerin Rosa Luxemburg (1871-1919) und dem Vorgehen der DDR-Oberen gegen die Verwendung ihrer Worte, dass Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden sei. Für ihn ende die Freiheit des Einzelnen dort, wo sie die Freiheit Anderer gefährde. Als Beispiel führte er den Streit um ein Tempolimit in Deutschland an. Dort werde ein "Lebensrisiko" eingegangen, dass viele Menschen etwa bei der Eindämmung der aktuellen Corona-Krise nicht akzeptieren wollten.

Bedford-Strohm hatte die Corona-Pandemie bereits zum Thema seiner Predigt im Festgottesdienst zum Erscheinen von Luthers Freiheitsschrift vor 500 Jahren gemacht. Dabei rief er in der Gothaer Margarethenkirche zu Solidarität und Selbstverantwortung auf. Einander beizustehen sei die beste Basis, um in der Krise zu bestehen.

Freiheit eines Christenmenschen in Pandemiezeiten heiße, "sorgsam mit Gesundheitsrisiken umzugehen und gleichzeitig dafür einzutreten, dass Menschen keinen sozialen Tod sterben", sagte Bedford-Strohm. Das bedeute, sich von der Not der Menschen, deren ökonomische und soziale Existenz durch die Corona-Maßnahmen immer mehr wegbreche, anrühren zu lassen und entsprechend der eigenen Möglichkeiten Solidarität zu üben. Wenn aber Menschen heute für Freiheiten demonstrierten, die andere in Gefahr brächten, dann könnten sie sich nicht auf das christliche Freiheitsverständnis berufen, stellte Bedford-Strohm klar.

Kirchenhistoriker Spehr: Luthers Freiheitsschrift bleibt aktuell

epd-Gespräch: Dirk Löhr

Erfurt (epd). Der Jenaer Kirchenhistoriker Christopher Spehr warnt vor einem falschen Verständnis von Luther Freiheits-Begriff. "Diese Freiheit ist nie aus sich selbst hervorgehende, autonome Freiheit, sondern stets an Gott gebunden", sagte der Dekan der Theologischen Fakultät der Schiller Universität dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Erfurt. Darin unterscheide sich der in seiner Streitschrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" eingeführte Terminus deutlich vom neuzeitlich-aufgeklärten Freiheitsverständnis: Ohne Gott, so Luther, keine Freiheit, erklärte der Theologe. Die Streitschrift ist vor 500 Jahren erschienen.

Die "Freiheit im Horizont von Gaube und Liebe" habe nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Es tue einem evangelischen Christen gut, zu wissen, dass er im Glauben von den weltlichen Zwängen, Problemen und Herausforderungen befreit sei und sie ihn nicht zu sehr belasten müssten. "Es ist aber auch notwendig zu erinnern, dass ich um der Liebe zu meinen Mitmenschen so handle, dass es ihnen zum Guten dient", betonte der Kirchenhistoriker. So nütze in Corona-Zeiten etwa der Mund-Nase-Schutz nicht in erster Linie dem Träger selbst, sondern er diene dem Schutz der anderen.

Christliche Freiheit, Glaube und Liebe gehörten zusammen. "Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe", zitierte Spehr aus der Freiheitsschrift. Wenn der Glaube absolut gesetzt und die Liebe ausgeklammert werde, verkehre sich die Freiheit in ihr Gegenteil.

Die Schrift markiert für den Historiker einen reformatorischen Meilenstein. Als Luther sie verfasst habe, "kreiste über ihn bereits der Bannstrahl aus Rom. Doch der Wittenberger Theologieprofessor widerrief nicht, sondern schrieb 1520 um sein Leben", sagte Spehr. Die Hoffnung auf eine Reform der damaligen Papstkirche sei für ihn aussichtslos gewesen. Stattdessen habe er die weltliche Obrigkeit aufgefordert, die Reform der Kirche nun selbst in die Hand zu nehmen.

Luther habe mit dieser Schrift möglichst viele Leser erreichen wollen. In Latein schrieb er für das gelehrte und internationale Publikum, auf Deutsch für die lesefähige deutschsprachige Bevölkerung. Beide Schriften erlebten zahlreiche Auflagen und Nachdrucke. Besonders die deutschsprachige Version konnte laut Spehr "zu einem der bekanntesten und wirkmächtigsten Texte der Reformationszeit" avancieren.

Eine Erstausgabe der 2015 in das Unesco-Weltdokumentenerbe aufgenommenen Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" wird in der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt aufbewahrt.

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