29.10.2024
Wie derb darf Martin Luther heute sein? Forschende diskutieren über Avatar des Reformators

Erlangen (epd). Stünde Martin Luther heute vor der Wittenberger Schlosskirche, wäre das wohl ein ziemlicher Kulturschock - für den Reformator und für die Wittenberger des 21. Jahrhunderts. Der sprachgewaltige, wenn nicht manchmal derbe Mönch lebte vor 500 Jahren.

Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte er 95 Thesen mit Kritik an der Kirche seiner Zeit, die später zum Entstehen der evangelischen Kirche führte. Wegen seiner judenfeindlichen Äußerungen wird er heute kritisiert. Dennoch hätte Luther wohl viel Spannendes aus seiner Zeit zu berichten, wenn man ihn nur fragen könnte.

Zumindest bei seinem digitalen Abbild ist das mithilfe Künstlicher Intelligenz möglich: Die Evangelische Kirche im Rheinland hat einen 3-D-Luther-Avatar programmiert und im vergangenen Jahr zum Reformationstag am 31. Oktober präsentiert. Seitdem entwickelt sie den Avatar kontinuierlich weiter. Und die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland baut in einem neuen Projekt auf diesem Luther-Avatar auf. Sie entwickelt eine Augmented-Reality-App, in der Luther und der Theologe und Revolutionär Thomas Müntzer (1489-1525) miteinander gesellschaftliche Fragen diskutieren und in der sich die Nutzer selbst positionieren können.

Wozu solche Inkarnationen gut sein können und worauf man bei ihrer Programmierung achten sollte, darüber haben Studierende und Forschende in Erlangen diskutiert. Dazu gehört die Frage, wie authentisch so ein digitaler Luther überhaupt sein kann. „Es gibt die historische Figur Martin Luther, die gelebt hat. Aber zu ergründen, wie der tatsächlich war, ist Gegenstand historischer Forschung“, sagt Florian Höhne, Lehrstuhlinhaber für Medienkommunikation, Medienethik und Digitale Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Manches sei in der Forschung Konsens, anderes umstritten: „An diesen einen Luther kann ich nicht herankommen.“

Die rheinische Kirche hat für das Erscheinungsbild ihres Avatars bestimmte Entscheidungen getroffen. Dafür wurde einem 3-D-Modell des Luther-Porträts von Lucas Cranach ein mittelgroßer und mittelschlanker Körper verpasst, der in einem modernen Talar steckt. Luther als evangelischer Pfarrer statt als katholischer Mönch. Höflich und kompromissbereit, aber auch recht farblos beantwortete der Avatar am Reformationstag im vergangenen Jahr in einem digitalen Kirchenraum eine Stunde lang Chatfragen von Usern - auf Hochdeutsch, nicht im Sächsisch des 16. Jahrhunderts.

Grundlage für die Antworten des Luther-Avatars war damals der Bot ChatGPT und dessen Wissen über Luther, erzählt Ralf Peter Reimann, Pfarrer und Diplom-Informatiker bei der rheinischen Kirche. „Dazu werden über ChatGPT auch die Antworten moderiert, wodurch sich Luthers Sprachgewalt natürlich nicht durchschlägt.“ Für eine aktualisierte Version haben die Programmierer darum jetzt Texte und explizit auch überlieferte Zitate von Luther eingespeist und mit verschiedenen Sprachmodellen getestet. „In manchen konnten wir einige Zitate gar nicht hochladen, weil sie als anstößige Sprache markiert wurden“, berichtet Reimann.

Besonders schwierig wird es mit Aussagen des Reformators, die heute nicht unkommentiert stehen gelassen werden können wie etwa seine judenfeindlichen Tiraden. „Luthers Antijudaismus darf ich nicht verstecken“, betont der Ethiker Höhne. „Gleichzeitig hat in der Kirche in der Zwischenzeit auch eine Aufarbeitung stattgefunden. Beides muss ich irgendwie mit einbeziehen.“

Lea Stolz vom Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Tübingen plädiert für einen unterschiedlichen Umgang je nach Zielgruppe: Werde der Luther-Avatar zu Bildungszwecken im Unterricht eingesetzt, könne man auch mit kritischen Originalaussagen arbeiten. „Man müsste dazu einen sicheren Rahmen mit einem begleitenden Reflexionsangebot schaffen“, sagt sie - also keine öffentliche, nicht moderierte Unterhaltung mit dem Avatar wie am Reformationstag 2023.

Auch die Programmierer der rheinischen Kirche denken mit der Weiterentwicklung ihres virtuellen Luther inzwischen mehr in Richtung Bildungsarbeit. „Die Frage ist nicht, ob es einen virtuellen Luther gibt oder nicht“, gibt Reimann zu bedenken, denn das KI-Tool „Hello History“ habe längst einen Luther-Chatbot im Angebot: „Diese sind häufig von der Qualität her sehr schlecht. Da müssen wir etwas Gutes dagegen setzen.“

Einige Fortschritte hat der Luther-Avatar bereits gemacht. Inzwischen können Fragesteller als eigene Avatare in seiner digitalen Welt agieren und über ein Mikrofon direkt mit ihm sprechen. Und der Reformator steht nicht mehr in einer Kirche, sondern auf einer verglasten Dachterrasse mit weiter Landschaft im Hintergrund.

Von Julia Riese (epd)

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