05.05.2022
Predigt zur Ökumenischen Morgenandacht am Donnerstag, den 5. 5. 2022 um 08.30 Uhr im Raum der Stille des Thüringer Landtags, OKR Dr. André Demut

- Schriftlesung: 1. Mose 1, 1-5

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. 2 Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.
3 Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. 4 Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis 5 und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. ….
26 Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. 27 Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. … 31 Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.

Liebe Landtagsgemeinde,
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“
Unser heutiger Bibeltext vom Anfangen und von dem, was als erstes und zweites und drittes in der Welt erscheint, wird am kommenden Sonntag in allen evangelischen Kirchen in Deutschland der Predigtauslegung zugrunde liegen.
In aufgewühlten Zeiten wie diesen empfinde ich es als besonders kostbar, dass mir von meiner Kirche ein Bibeltext vorgegeben wird.
Nicht ich habe eine Idee im Kopf, was ich meiner Gemeinde heute mal unter die Nase reiben möchte und suche mir dazu einen passenden Bibeltext – sondern ein Text der Heiligen Schrift ist mir, ist uns in einem starken, in einem emphatischen Sinne „vorgegeben“.

„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“
Von Gott wird erzählt als dem großen Beginner.
- eine neue Welt wird geschaffen
- ein neuer Mensch zeigt sich, Jesus von Nazareth und zu Ostern wird von IHM die Todeslogik der Welt überwunden
- ein neuer Geist wird unter alle Völker ausgegossen am Pfingsttag – die ganz Unterschiedlichen verstehen einander, werden miteinander verbunden und bleiben zugleich differenzsensibel
- jede Taufe mit Wasser und Geist ist solch ein Neuanfang für einen Menschen, der Wasser und Geist empfängt
- jeder Morgen ist ein Neuanfang
Mit etwas neu anfangen können,
gehört zum Wunder der Schöpfung.
Mit etwas neu anfangen können
gehört zum Wunder der österlichen Neu-Schöpfung.
 
„Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“
Und nach dem sechsten Tag heißt es:
„Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte und siehe, es war sehr gut.“

Was für ein grandioser Beginn: Gott beginnt, Gott setzt neu an – und siehe, es wird sehr gut.

Gibt es das wirklich:
Einen echten Neuanfang machen?
Zumindest für uns Menschen scheint das in Frage zu stehen.
Ist nicht jede Tat, jedes Ereignis auch eine Reaktion auf etwas Vorhergegangenes?
Wie viel von dem, was wir fühlen, denken und tun ist echte Aktion, Neu-Beginn, freie Tat?!
Und wie viel davon ist im Grunde Re-Aktion und immer weitere Fortsetzung längst eingeschlagener Pfade? … auch wenn wir uns dabei frei fühlen mögen …  
Und, noch drastischer formuliert:
Sind wir mit unserem Denken und Handeln nicht arg fixiert durch das, was bisher gründlich schief gelaufen war –
gestern,
im letzten Jahr,
im vergangenen Jahrhundert?
Wie stark nimmt uns unsere Vergangenheit gefangen?
Sind wir tatsächlich frei, zum Guten hin neu anzufangen?

Anfang der 2000er Jahre habe ich mit einigen Pfarrkollegen zusammen eine Woche lang eine evangelische Gemeinde im Oblast Kaliningrad besucht. Gussew heißt der Ort jetzt, früher Gumbinnen.
Und natürlich besuchten wir auch Kaliningrad.
Bis heute bewegt mich der Moment, an dem wir dort vor dem Denkmal für Immanuel Kant standen.
Seine philosophische Altersschrift „Zum ewigen Frieden“ mit ihren Überlegungen zum verbindlichen Charakter des Völkerrechts ist eine wichtige Wurzel für die Charta der Vereinten Nationen.  
Kant hat sein Leben lang darüber nachgedacht, wie Freiheit, nicht Zwang, zum Guten möglich werden kann.
Was unterscheidet Freiheit von Willkür?
Woraus speist sich die Hoffnung, dass die Menschheit nicht gefangen bleibt in den immer gleichen Fehlern?

Einerseits war Immanuel Kant ein knochentrockener Realist, Originalton:  
"Jede Handlung, als Erscheinung [...] ist selbst Begebenheit [...], welche einen andern Zustand voraussetzt, darin die Ursache angetroffen werde [...]"
Was gestern war, legt den Korridor fest für das, was morgen sein wird – im Guten wie im Bösen.
Es hat keinen Sinn, sich über die Geltung dieser Tatsache Illusionen hinzugeben.

Doch zugleich, und jetzt wird es richtig spannend, war Immanuel Kant zutiefst davon überzeugt, dass nicht nur Gott, sondern auch wir Menschen – gleichsam wie aus dem Nichts, creatio ex nihilo – mit dem Guten auch ohne Vorbedingungen neu anfangen können.
Der Mensch kann nach Kant – weil er ein Mensch ist – sich selbst Regeln geben, denen er gehorcht, weil er oder sie diese Regeln als vernünftig einzusehen vermag.
Der Mensch vermag sich frei zu machen von der Furcht vor Strafe oder von dem Schielen nach einer Belohnung.
Der Mensch kann die scheinbar ewige Kette von Ursachen und Wirkungen durchbrechen und, weil es vernünftig ist, ganz neu mit dem Guten anfangen – wie aus dem Nichts.

Wir haben vorhin miteinander Psalm 19 gebetet.
Der Beter staunt über die Harmonie des gestirnten Himmels über sich und über die Weisheit des moralischen Gesetzes in uns und unter uns Menschen.

Bei Kant klingt Psalm 19 so, wieder Originalton:
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Wer aus eigener innerer Überzeugung eine Regel befolgt, von der er wollen kann, dass sie von allen Menschen befolgt wird, ist ein wahrhaft freier Mensch.
Nichts zwingt ihn oder sie von außen, Gutes zu tun.
Er oder sie gehorchen dem vernünftigen und moralischen Gesetz aus innerer Zustimmung, aus Freiheit, nicht aus Zwang.
Nichts versklavt sie, was in der Vergangenheit falsch gelaufen war.
Wie aus dem Nichts kann er oder sie immer neu mit dem Guten anfangen.
Nur so besteht für Immanuel Kant der Mensch als ein freies und moralisches Wesen.
Das ist ein anspruchsvolles Konzept. Das ist nichts für flache Geister.   
 
„Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.“

Beachten wir bitte, dass nicht mal die Bibel diesen guten Beginn, diesen Anfang mit dem Guten wie aus dem Nichts als ein Wolkenkuckucksheim oder einen Ponyhof beschreibt.
Der zweite Satz der Heiligen Schrift nimmt nüchtern in den Blick, dass vom zweiten Moment an in unserer Schöpfung auch Chaos herrscht.

„Wüst und leer“ – hebräisch „Tohuwawohu“, Irrsal und Wirrsal übersetzen Buber / Rosenzweig.
Auch die Heilige Schrift ist – wie Immanuel Kant – knochentrockene Realistin. Nix Ponyhof.
Doch bitte beachten wir, dass die Chaosmächte – Irrsal und Wirrsal – erst an zweiter Stelle stehen.
Gott bezieht sich auf sie.
Er ignoriert sie nicht.
Er tut nicht so, als wären sie gar nicht da.
Frieden schaffen durch Ignorieren von Irrsal und Wirrsal funktionieren nicht.  
„Vogel-Strauß“ und „Wegwünschen“ sind keine Strategien.

Zugleich bekommen diese Chaosmächte nicht die Ehre zugestanden, das Feld zu beherrschen.
Gott bezieht sich auf sie – doch sie lässt sich von ihnen nicht dominieren.
Die, welche ewig mit dem Guten – wie aus dem Nichts – beginnt, bleibt in der Vorhand.

Wer das jetzt als Gender-Gaga abtut, dass ich von Gott mal in der weiblichen und mal in der männlichen Form spreche, den oder die möchte ich darauf hinweisen, dass das hebräische Wort für Geist – „der Geist Gottes schwebte über den Wassern“ ein weibliches ist.
Und der Mensch, der im Bilde Gottes geschaffen wurde ist, wörtlich hebräisch nicht „Mann und Frau“ sondern „männlich und weiblich“.
Der Mensch, das Bild Gottes ist – laut Urtext Heilige Schrift – männlich und weiblich.
Die Bibel hat starke emanzipatorische Seiten, die durch eine lange patriarchale Auslegungstradition zugekleistert wurden.

Also, zurück zum Hauptgedankengang:
Dieser Gott bezieht sich auf die Chaosmächte – aber nicht als Re-Aktion, sondern als freie Aktion.

Die Initiative bleibt bei ihr, die – aus dem Nichts! immer wieder! mit dem Guten anfängt.
Mit dem, was dem Leben dient und nicht dem Tod.
Mit dem, was die Szene erhellt und nicht verfinstert.

3 Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. 4 Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis 5 und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.

Dazu noch ein letztes Mal Originalton Kant. Er ist davon überzeugt, dass auch wir Menschen in einem anspruchsvollen Sinne frei sind, uns nicht auf die Finsternis zu fixieren.
Das ist nicht ableitbar als ein Naturgesetz.
Das ist mit Zwang nicht herstellbar.
Gott spricht: Es werde Licht – und es wird Licht.
Und weil wir – nach dieser biblischen Schöpfungserzählung – Gottes Ebenbilder sind, können wir das auch.
Originalton Kant: Wir Menschen können, Zitat, "unabhängig von [den] Naturursachen [...] etwas hervorbringen [...], mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anfangen"
Möge der Geist Gottes – und der Geist vernünftiger und moralischer Freiheit des Mannes auf dem Sockel dort in Kaliningrad – kräftig wirken in der ganzen Gegend dort und überhaupt in unserer Welt voller Irrsal und Wirrsal.

Amen.

 


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