Augenblick mal, MDR, Radio, Radio-Andacht, Radio-Andachten, Radioandacht, Radioandachten,

23.05.2021
Babel

Sie stehen vor dem Trümmerhaufen und verstehen die Welt nicht mehr. Es ist, als würden sie nicht mehr die gleiche Sprache sprechen. Dabei waren sie vor kurzem noch so sicher: Es gab diese eine große Idee. Alle folgten ihr gern. Es gab markige Worte. Groß machen wollten sie sich. Ein Werk für die Ewigkeit errichten, ein Zeichen, dass niemand übersehen kann.

Was war geschehen?

Vielleicht war es, dass sie ihren Verstand abgegeben hatten. Es klang zu verlockend: Hoch über allen anderen Häusern der Stadt sollte es erhaben sein: das größte Gebäude in der Region, ach was: auf Erden! Der größte Turm. Bis in den Himmel sollte er wachsen. Ein Mahnmal der Ingenieurskunst. Hier sollte man geradezu über die Wolken gucken können. Dem lieben Gott auf den Kopf spucken. Babel for ever.

Sie fühlten sich stark. Sie waren sich einig. Alle zogen an einem Strang.

Und Gott lachte.

Das gemeinsame Ziel hat sie stark gemacht. Sie sprachen quasi eine Sprache. Die mit den markigsten Worten. Wir sind unbesiegbar, murmelten sie mantraartig, immer lauter.

Und dann begannen sie. Stein auf Stein. Hunderte, Tausende, Millionen Steine. Aufeinander, der Turm wuchs Meter um Meter, die Leute schleppten und wuchteten, schufteten ehrfürchtig, keiner fragte, wozu das alles.

Und dann kam Gott.

Er verwirrte ihre Sprache, drehte ihre Gedanken wie im Kreis und der Turm stützte in sich zusammen.

Sie sitzen vor den Trümmern und weinen. Sie warten auf den Tag, an dem jemand sie sprechen lehrt, so, dass sie sich wieder verstehen. Nicht nur der einen Idee hörig, sondern einander zugehörig. Dass sie wieder beginnen können zu bauen. Wohnungen für alle.

Ulrike Greim, Weimar, Evangelische Kirche.


Bleiben Sie mit unseren Newslettern auf dem Laufenden.

Hier Abonnieren

Die besten News per E-Mail - 1x pro Monat - Jederzeit kündbar