17.01.2023
140 Jahre Kafka: Sich trauen, durch die Tür zu gehen

In der Schule hatten wir einen Fan-Klub für Franz Kafka. Der Klub bestand aus meinem Banknachbarn und mir. Wir fanden die Geschichten des Schriftstellers zwar beklemmend; aber so hat er uns dazu gebracht – besser als mit jedem Appell –, dass wir etwas im Leben wirklich anders machen wollten als vor dem Lesen. Eine Erzählung ging so: „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Land und bittet um Eintritt.“ Das Tor zum Gesetz steht offen. Doch der Türhüter sagt, dass er den Mann jetzt nicht einlassen kann; vielleicht später. Auf eigene Gefahr könnte der Mann zwar hineingehen. Doch von Saal zu Saal kämen weitere Türhüter, einer mächtiger als der andere. Also setzt sich der Mann vom Land neben die Tür und wartet. Tage vergehen, dann Jahre. Er versucht oft hineinzukommen; besticht den Türhüter. Vergebens. Im Sterben stellt er noch eine Frage: „Alle streben doch nach dem Gesetz. Wieso wollte in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass?“ Der Türhüter beugt sich hinunter und sagt: „Niemand konnte hier Einlass bekommen, weil der Eingang nur für dich bestimmt war. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ So endet die Geschichte – und macht betroffen. Der Mann hat sich so einschüchtern lassen, dass er nicht mal selbst geschaut hat, ob wirklich noch Türhüter kommen. Lass das nicht mit dir machen, will ich ihm sagen. Sicher – vor unüberwindbaren Hürden muss man umdrehen und andere Wege suchen. Aber vorher: alles versuchen! Wer anklopft, dem wird aufgetan.

Milina Reichardt-Hahn, evangelisch und Pfarrerin in Fambach


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