30.03.2021
Bekreuzigen und Bezwetschkigen

Zweierlei Handzeichen heißt ein Gedicht von Ernst Jandl. Es geht so:
ich bekreuzige mich vor jeder kirche
ich bezwetschkige mich vor jedem obstgarten
wie ich ersteres tue, weiß jeder katholik
wie ich letzteres tue, ich allein

Das Gedicht kenne ich seit Jahren und bin immer noch ahnungslos, wie er sich wohl bezwetschkigt hat. Die Hand neben den Kopf gehalten und leicht gedreht, wie wenn man eine Zwetschge vom Baum pflückt? Ich weiß es nicht. Und denke: Bestimmt hat Ernst Jandl genau das bezweckt. Vieles macht jeder mit sich alleine aus. Wenn uns klarer wäre, dass es beide Bereiche gibt – den allgemeinen und den verborgenen – könnten wir uns etlichen Ärger ersparen. Ein Beispiel. Von Weihnachten, weil man kurz vor Ostern entspannter darüber sprechen kann. Letztes Jahr haben manche gesagt: „Dann wird an Weihnachten eben nicht gesungen, so schlimm ist das nicht.“ Klar, wir mussten uns anpassen und haben aufs Singen verzichtet. Nur sowas sagt sich leicht, wenn man selber kein Chorsänger ist. Ich bin keine Sängerin, das ist für alle besser so. Für Musikfreunde aber ist Weihnachten ohne Singen kein Fest. Das ist ihr eigener, innerer Brauch. Für andere ist es die Weihnachtsbeleuchtung. Würde man denen sagen: „Wegen der Lichtverschmutzung werden die Häuser mal nicht geschmückt“, würden die auf die Barrikaden gehen. Manchmal, wenn zwei sich erbost gegenüberstehen, liegt es daran, dass sie gerade vom Bezwetschkigen reden.

Weisheit zum Unterscheiden wünscht Ihnen Milina Reichardt-Hahn, evangelisch und Pfarrerin in Fambach


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