27.07.2023
Frau Müller ist blind und springt über ihren Schatten

Ich sollte doch mal Frau Müller besuchen, sagt mir jemand aus der Kirchengemeinde. Denn Frau Müller würde was fehlen. Als sie die Tür aufmacht, merke ich, was es ist: Frau Müller ist blind. Auf einem Auge sieht sie nichts; auf dem anderen hat sie zwei Prozent Sehkraft. Hell und dunkel kann sie grob unterscheiden, mehr nicht. Deshalb fühlt sie sich zuhause am wohlsten. Dort weiß sie genau, mit welchen Schritten sie den Hocker im Flur umschiffen muss und wo die Gläser im Küchenschrank stehen. Ihre Hand greift direkt dorthin. Dann sagt sie: „Wir setzen uns raus in den Wintergarten, da ist es schön.“ Und ich denke: Spürt sie das Sonnenlicht auf der Haut? Oder woher weiß sie, dass es dort schön ist? Sie weiß es von früher. Früher war mit Frau Müllers Augen alles in Ordnung. Erst mit der Zeit wurde ihr Augenlicht weniger; jetzt lebt sie schon seit Jahrzehnten damit. Natürlich: Ihre Familie hilft, kauft ein, fährt sie zum Arzt. Frau Müller zeigt mir ihre Enkelkinder auf Fotos, kann sie selbst aber nicht mehr sehen. Verbittert ist sie deswegen nicht. Sie scheint zufrieden zu sein. Dann sagt sie, dass sie wieder in die Kirche eintreten will. Die ganzen Jahre habe ihr etwas gefehlt. Ach so! Und ich dachte gleich an ihr Augenlicht. Dass das nicht mehr da ist, ist für Frau Müller aber normal. Gefehlt hat ihr dagegen was anderes: von der Hoffnung zu hören, dass alles gut enden wird. Dass wir irgendwann alles verstehen. Ja, sage ich: Unsere Traurigkeit verwandelt sich dann in Freudengeheul. Wir werden sehen, so, wie wir jetzt schon gesehen sind.

Dass auch Ihnen das Kraft gibt – genau da, wo sie fehlt, das wünscht Ihnen Milina Reichardt-Hahn, Pfarrerin in Fambach


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