03.04.2019
Lob der Vergesslichkeit

Ins Pflegeheim gehe ich immer mit weichen Knien. Wenn ich dort einen Besuch mache, weiß ich nie, was mich erwartet, welches Gesicht, welches Leiden, welche Gespräche, welche Gerüche …

Und es bedrückt mich, die BewohnerInnen so einsam zu sehen und abgeschnitten von allem.

Diesmal möchte ich auf der Demenz-Station einem Neunzigjährigen zum Geburtstag gratulieren, den ich noch nicht kenne.

Ich bin schon mal froh, dass ich gleich mit dem neuen Schlüssel-Code klarkomme… pelle dann mit nervösen Fingern meinen kleinen Blumenstrauß aus dem Papier… grüße freundlich zurück, als die junge Altenpflegerin mir zunickt… irgendwoher kenne ich sie, aber der Name fällt mir gerade nicht ein, komisch…!

Auf dem langen Gang steht  eine Frau mit großen Augen, die ihren Rollator hin und her schiebt. Ich erwisch mich bei dem Gedanken, dass ich vielleicht eines Tages auch…

Ich hole tief Luft und öffne die Tür.

Und dann sitzt er vor mir. Tiefenentspannt und strahlend sitzt er in seinem Sessel und lächelt mir entgegen. Ein Bild der Zufriedenheit!

Meine Blumen und meine Gratulation interessieren ihn nicht besonders. Aber

als ich ihn frage, wie es ihm geht, antwortet er überzeugend: Mir geht´s gut! Mir fehlt nischt!

Das ist der Moment, in dem ich mich auch entspanne. Und endlich aufhöre, alles so fruchtbar dramatisch zu sehen. Der Mann ist neunzig! Und er ist so herrlich zufrieden! 

Möge es so sein, denke ich, und spreche ein kurzes Gebet. Für ihn und alle, die zu ihm gehören, auch wenn er sie vergessen hat. Und für alle, die für ihn sorgen.

Das ist, was ich tun kann. Ich will es gerne tun.

Eine entspannte Nacht

wünscht Angela Fuhrmann, Ev. Pfarrerin in Gotha


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