30.05.2023
Nicht duzen

Immer, wenn es draußen besonders kräftig grünt und blüht, fühlt er sich besonders müde und leer. Und sein Balkon – meine Güte, er müsste mal die alten Blumenkästen neu befüllen. Die paar spirligen Hälmchen deprimieren ihn noch einmal extra. Aber seit die Frauausgezogen ist, weiß er nicht, für wen er sich anstrengen soll. Im Job braucht ihn keiner. Dass ihn der Schnösel-Chef duzt, kotzt ihn an. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Wozu ist er eigentlich hier? Dann hat er gelesen, dass die bei der Bahnhofsmission Sachen suchen. Jacken, Schlafsäcke, auch Kaffee. Für die, die auf der Straße leben. Siehste, so kann es auch kommen. Er hat mal was hingebracht. Und gesehen, was da für arme Kerle sitzen. Die hat es irgendwann aus der Kurve getragen. Das will er für sich nicht. Nicht aufgeben. Irgendetwas mit Sinn machen. „Mitarbeiter gesucht“ steht auf einem Zettel an der Tür. Er sagt, er hätte Zeit. Jetzt steht er hinter dem Tresen und schöpft Suppe auf Teller und gibt sie den Gästen. Und lernt, dass man hier „sie“ sagt. Die Gäste werden nicht geduzt. Respekt bitte. Auch wenn jemand müffelt und zugekokst ist. Ihm gefällt das. Er schmiert Brötchen, wenn es sein muss, macht er auch die Toilette sauber. Bahnhofsmission ist eine echte Aufgabe. Nichts für Feiglinge. Er ist kein Feigling. Er kann anpacken. Er braucht eine Aufgabe. Und die hat er hier. Irgendwie macht ihn das stolz.Auf seinem Balkon hat er jetzt Geranien gepflanzt.

Ulrike Greim, Weimar, Evangelische Kirche


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