13.09.2018
Sehen auf die Wut

Es war ruhig geworden um Werner in den letzten Jahren. Viel war nicht mehr los mit ihm. Das bisschen Einkaufen. Was eben noch ging mit dem Rücken nach 20 Jahren unter Tage. Hin und wieder ein Bierchen mit den Kollegen von damals. Mit denen, die noch da waren. Die Jahre nach der Wende haben ihren Tribut gefordert. Auch bei ihm. Seitdem er nicht mehr unter Tage war, wurden die Tage nicht heller, sondern zunehmend finster. Und einsam. Seine Frau hatte ihn vor bald 10 Jahren verlassen. Seitdem lebte er allein. Obwohl - das bisschen Leben.

Jetzt geht er hin und wieder zur Demo in die Stadt. Mal Dampf ablassen. Sich mal etwas Luft verschaffen. Das tut gut. Die Masse trägt. Das Gefühl von Gemeinschaft, das die Einsamkeit durchbricht. Eigentlich hat Werner nichts gegen Ausländer. Wie auch, er kennt ja keine. Aber dass es denen jetzt besser gehen soll als ihm, das findet er nicht gerecht.

Darum geht er zur Demo. Endlich gesehen werden. Endlich Beachtung finden. Die Wut ist die Sprache der Verzweiflung. All die Wut über das nicht gelebte Leben und das Gefühl, dass es mit ihm seit Jahren nur bergab geht. Keiner, der Werner sieht und ihn in den Arm nimmt.

Sehen wir hin! Erzählen wir uns unsere Geschichten! Vom Leben und ja, auch vom Sterben. Von schmerzhaften Abschieden und der Sehnsucht nach einem Neuanfang. Vom Glück der alten Tage und von den Sorgen von heute. Und auch von der Gewissheit, dass Gott uns auch in unserer Wut ansieht und uns fragt: Was hat deine Wut mit Dir zu tun?

 

Eine gute Nacht wünscht Pfarrer Ramón Seliger, evangelisch aus Weimar.


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