25.11.2020
100 Jahre Ev. Kirche in Thüringen | Grußwort von Ministerpräsident Bodo Ramelow

8. November 2020

Sehr geehrte Damen und Herren,

in normalen Zeiten hätten wir in großer Runde den 100. Jahrestag der Gründung der Evangelischen Kirche in Thüringen begangen. Wir hätten fröhlich Gottesdienst gefeiert, gesungen und wären einander nahe gewesen. In Zeiten der Corona-Pandemie ist das schwierig. Die Pandemie stellt uns vor eine große Bewährungsprobe und fordert uns alle. Sie erleben es in der Seelsorge, in Gottesdiensten und auf der Synode der EKD, die diesmal gänzlich digital veranstaltet wurde.

Deshalb sende ich der Evangelischen Kirche in Thüringen auf diesem Wege die herzlichsten Glück- und Segenswünsche zum 100. Jahrestag ihrer Gründung! Ich tue dies in doppelter Hinsicht gerne: Zum einen als Thüringer Ministerpräsident, der für die Beziehungen des Freistaats zu der auf seinem Territorium heute wirkenden evangelischen Kirche zuständig ist, und zum anderen als evangelischer Christ.

Brüche und Wandlungen sind Teil der hundertjährigen kirchlichen Geschichte, die eng mit der Geschichte Thüringens verbunden ist. Für beide – Kirche und Land – markiert das Jahr 1920 die Zeit der Auf- und Umbrüche: Ausgehend von der Novemberrevolution 1918 dankten die Fürstenhäuser ab und das Volk wurde zum Souverän. Am 1. Mai 1920 vereinigten sich sieben Kleinstaaten in der Mitte Deutschlands und bildeten fortan das Land Thüringen. Mit einem Augenzwinkern spreche ich oft von 100 Jahren „Vereinigte Staaten von Thüringen“.

Parallel zur Bildung Thüringens haben sich die kleinen Landeskirchen der ehemaligen Herzogs- und Fürstentümer vereinigt – die „Thüringer Evangelische Kirche“ ist entstanden. Eisenach wurde Sitz dieser Kirche. Die neu gegründete Kirche war eine moderne Kirche. Mit der Urwahl „von unten“ und in ihrer neuen Gestalt bildete sie die in der Gesellschaft wachsenden demokratischen Prozesse ab. Die Mitglieder von Landeskirchentag und Gemeindekirchenrat wurden direkt vor Ort gewählt.

Wenn wir in diesen aufstrebenden Anfangsjahren über Positives berichten können, dürfen wir den dunklen Teil der Jahre nach 1930 bis 1945 nicht aussparen. Das, was damals in den politischen Wahlen sichtbar wurde, bildete sich auch in der Kirche ab. Täter und Mitläufer, Opfer und Gegner des Nationalsozialismus sind Teil der bewegten Geschichte der Thüringer Kirche. Die Gründung des sogenannten Entjudungsinstituts, das Auslöschen jeglicher jüdischer Bezüge im Neuen Testament und im Gesangsbuch, NS-Dekor auf Gemeinde- Glocken – dieser Teil der eigenen Geschichte ist in der Evangelischen Kirche heute sehr bewusst.

In den Jahren nach dem Krieg, in den Zeiten bitterer Not und auf der Suche nach Neuorientierung bot die Evangelische Kirche Hoffnung in einer schweren Zeit.

Die Zeit in den 40 Jahren DDR war schließlich geprägt vom „Thüringer Weg“ zwischen Kompromiss und Kooperation. Die Kirche rang um ihre Stellung im sozialistischen Staat und bot Raum für eine freie Geisteshaltung, die sich aus dem Evangelium speist. Der demokratische Umbruch im Herbst 1989 wurde zum Aufbruch: Endlich konnten sich Kirche und Glaube in Freiheit entfalten. Es war das kirchliche Umfeld selbst, das mit Montagsgebeten, Umwelt- und Oppositionsgruppen den Weg dafür bereitet hat. „Vertraut den neuen Wegen“, heißt es so schön in dem Lied, das der Jenaer Theologe Klaus Peter Hertzsch damals dichtete. Aber der erneuerte religiöse Aufbruch war auch durch Kirchenaustritte und notwendige Vergangenheitsaufarbeitung überschattet.

Seit der Gründung des Freistaats Thüringen durch das Länderneugliederungsgesetz vor 30 Jahren stehen Staat und Kirche in einem freien und unabhängigen Verhältnis. Dieses ist auf Trennung und Kooperation ausgelegt. Das Grundgesetz enthält eine Reihe von Bestimmungen, die geradezu die Kooperation von Staat und Kirche erfordern: vom Religionsunterricht in den Schulen, über die Seelsorge in den Haftanstalten bis zur Kirchensteuer.

Wenn ich an die drängenden Fragen unserer Zeit denke, an die globalen, politischen, sozialen und technologischen Umbrüche, sind wir noch vielmehr auf den Beitrag der Kirche angewiesen. Denn die Kirche und der christliche Glaube leisten eine grundlegende Orientierung in universellen Wertefragen. Von hier gehen wichtige Impulse an Politik und Gesellschaft aus. Mit ihren Ehrenamtlichen sorgt die Kirche dafür, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt wird und dass christliche Werte in die Welt getragen werden.

Infolge des Beitritts zum Grundgesetz war es erforderlich, das rechtliche Verhältnis des Freistaats zur Evangelischen Kirche in Thüringen in einer freiheitlichen Grundordnung auf eine umfassende neue Grundlage zu stellen und dauerhaft zu gestalten Der 1994 zwischen dem Freistaat Thüringen und den Evangelischen Kirchen in Thüringen geschlossene Staatsvertrag hat sich seitdem  bewährt.

Auch bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts arbeiten Freistaat und Kirche eng im offenen Dialog und in Verantwortung gegenüber den Opfern und Betroffenen zusammen. Ausdrücklich danke ich für das gute, vertrauensvolle und konstruktive Miteinander. Die Aufarbeitung ihrer eigenen landeskirchlichen Geschichte in beiden deutschen Diktaturen ist der Kirche wichtig, wohlgleich hier noch Forschungsbedarf besteht.

In der Thüringer Erinnerungskultur hat das Gedenken an die dunkelste Zeit in unserer Geschichte einen festen Platz, so wie wir zeitlebens die Aufgabe haben, diesen Teil unserer Verantwortung nicht aus dem Blick zu verlieren. Dass wir in Thüringen heute das Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben“ begehen, ist der Initiative der beiden großen christlichen Kirchen und der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen zu verdanken. Die Kirchen nehmen das Themenjahr zum Anlass, um der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen eine neue Tora-Rolle zu schenken. Ein Geschenk mit großer Symbolkraft, das den Wunsch für eine gute Zukunft im Namen trägt: „Tora ist Leben“.

Ich danke der Evangelischen Kirche für ihr Engagement in diesem Themenjahr. Es ist eine große Bereicherung!

Indem sich die einstigen Landeskirchen 2009 entschieden, in dem Zusammenschluss der EKM aufzugehen, sind sie aktiv in einen gesellschaftlichen Prozess eingetreten, der in den kommenden Jahrzehnten weitreichende Veränderungen bringen wird. Ich wünsche der Evangelischen Kirche in Thüringen dafür viel Kraft und eine gute Zukunft!

Alles Gute zu 100 Jahren „vereinigte“ Evangelische Kirche in Thüringen!

Ihr

Bodo Ramelow

Ministerpräsident des Freistaats Thüringen


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