12.12.2017
Rede von Bischof Professor Dr. Hein zum diesjährigen Adventsempfang der Evangelischen Kirchen in Thüringen
Höflichkeit und Respekt: Die kleine Münze christlicher Ethik in Zeiten der Verrohung Vortrag zum Adventsempfang der Evangelischen Kirchen im Freistaat Thüringen am 6. Dezember 2017 im Augustinerkloster Erfurt
Herr Ministerpräsident, Frau Landesbischöfin,
verehrte Ehrengäste, liebe Schwestern und Brüder!
„Die kleine Münze“
Höflichkeit und Respekt scheinen aus der Mode zu kommen. Und auch der ethisch-philosophische Diskurs über Höflichkeit und Respekt ist augen-scheinlich nicht mehr zeitgemäß.
Nach der aufklärerischen Kritik an Konvention, Etikette und Sitte – sie seien bloß äußerlich, tendenziell verlogen und unnatürlich – verschwand die ernst-hafte Beschäftigung mit den Fragen des alltäglichen Umgangs.
Sie sank entweder herab in die Ratgeberliteratur, der oft eine betuliche Belie-bigkeit anhaftet, oder wanderte in die Soziologie, die keinerlei Anspruch er-hebt, Normen setzen zu wollen: Der „Prozess der Zivilisation“ wird nur be-schrieben. Ein normativer, begründeter Diskurs fand hierzu nicht nur nicht mehr statt – er wurde auch zunehmend verdächtig. Die Frage nach Um-gangsformen geriet unter den Verdacht, antimodern, autoritär und antiliberal zu sein.
Dadurch entstand eine Lücke. Denn wenn Konvention, Sitte und Herkommen nicht mehr verbindlich sind, wie findet der Einzelne den Weg zwischen Au-thentizität und Takt, zwischen brutaler Offenheit und Ehrlichkeit, zwischen vorsichtiger Vermeidung von Verletzungen und aufrichtiger Distanz? Woran sollen sich Erziehung und Bildung in Fragen des alltäglichen Umgangs orien-tieren?
Bei den großen ethischen Fragen nach Krieg und Frieden, nach dem Um-gang mit der Natur oder der Biotechnologie, nach Tod und Sterben stellen wir große theoretische Schecks aus. Aber wie ist es um die kleine Münze des alltäglichen Umgangs bestellt?
Hinter dieser Frage – das möchte ich wenigstens andeuten – steht das Prob-lem der Gewalt. Aus der Verhaltensforschung kann man lernen, dass rituali-sierte Umgangsformen der Vermeidung von Gewalt und der Ermöglichung von Kommunikation auf einer schon vorsprachlichen Ebene dienen. Die un-abgesprochenen, aber eingeübten Gesten in Verhalten und Sprache sind gar nicht auf Inhalte angelegt, sondern auf Situationsklärung. Darin sind sie Kul-tur und nicht bloß Natur. Aber als Kultur sind sie geschichtlich: Gesten wan-deln sich, sie sind kontextabhängig, sie verändern sich wie unsere Sprache auch.
Wer dieses Spiel nicht durchschaut, läuft Gefahr, Gefangener vergangener Konventionen zu werden und bare Münze zu vermuten, wo doch nur Spielgeld im Umlauf ist. Das Gefährliche daran ist: Aus bloßen Konventionen können Mittel der Unterdrückung und Herrschaft werden. Konventionen waren immer auch Unterscheidungsmerkmale, die Herkunft als soziale und kulturelle Zu-gehörigkeit markieren. Nicht ohne Grund nannte früher ein höfliches Verhal-ten „distinguiert“.
Historisch fand im 20. Jahrhundert in der westlichen Welt die Kritik am kon-ventionellen Verhalten vor allem infolge der so genannten 68er-Revolution statt. Die traditionellen Tugenden des „Anstands“ und der „Sitte“ galten als Sekundärtugenden. Dadurch nahmen sowohl der Diskurs über Tugenden als auch die traditionellen Formen des alltäglichen Verhaltens selbst Schaden, was dazu führte, dass alle Versuche, so etwas wie eine „Tugenderziehung“ auch nur zu denken, sogleich diffamiert wurden.
Aber auch in der sozialistischen Welt gab es Kritik am bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Alltagsethos. Wenn in den 60er Jahren der SED-Chefideologe Kurt Hager eine Rückbesinnung auf die preußischen Tugenden von Fleiß, Ordnung und Disziplin als Ausdruck sozialistischer Tugenden for-derte, sollte ausgerechnet durch sie die bürgerliche Selbstbezogenheit über-wunden werden. Auch hier entdecken wir also eine kritische Distanz zur un-reflektierten Übernahme von selbstgenügsamen Traditionen, die freilich ih-rerseits wieder repressiv wurden.
Doch die Kritik an den Tugenden des alltäglichen Umgangs kommt nicht nur „von links“, sondern ebenso aus dem konservativen Lager. Im Kampf gegen die „political correctness“ wurden seit den 1990er Jahren alle Versuche ver-unglimpft, wenigstens auf der Ebene der Sprache Konventionen für einen in-klusiven und nicht-diskriminierenden Umgangston und dazugehörige Verhal-tensweisen der Rücksichtnahme einzuüben. Die Kritik „von rechts“ macht sich etwa Luft in der Formulierung: „Das wird man ja doch wohl mal sagen dürfen“ – und wie wir wissen, bleibt es längst nicht mehr beim Sagen, son-dern wir erleben handfeste Tabubrüche. Die politische Korrektheit wird von dieser Seite als Einschränkung der Redefreiheit und als Zensur bezeichnet, stellt aber den demokratischen Konsens oft gleich mit in Frage.
Wie viele andere verdrängte Themen kommen die Fragen des alltäglichen Umgangs miteinander inzwischen wieder nach oben. Denn wir bemerken das Verschwinden von Höflichkeit und Respekt und erleben eine eklatante Verro-hung! Daran haben vor allem die Veränderungen in der öffentlichen Diskus-sion durch die Wandlungen in der Medienwelt einen gehörigen Anteil. Hier beobachten wir eine Enthemmung des Umgangstons, der alle bisher gültigen Schranken durchbrochen hat.
Das gilt insbesondere für die so genannten „sozialen Medien“. Wurden An-fangs beleidigende und herabwürdigende Kommentare noch anonym veröf-fentlicht, so geschieht das zunehmend unter bedenkenloser Nennung des eigenen Namens. Herabwürdigende Kommentare, Einschüchterungen – bis hin zu Todesdrohungen! –, Diffamierungen und bewusst lancierte personen-bezogene Fake-News verbreiten sich in Windeseile. Wir erleben eine Ent-hemmung, die Auswirkungen auf den alltäglichen Umgang hat und unsere politische und öffentliche Kultur betrifft. Wir konstatieren auf vielen Gebieten ein Schwinden des allgemeinen Rechtsempfindens und der Akzeptanz von Regeln des Respekts und der Höflichkeit.
Es muss einen nachdenklich stimmen, dass die Antrittsrede des Bundes-tagspräsidenten am 24. Oktober in ihrer Mitte einen Aufruf zum anständigen Umgang miteinander enthielt: Wenn an einer so prominenten Stelle zu einem derart exponierten Zeitpunkt solch eine Erinnerung, ja Aufforderung nötig ist, scheint es tatsächlich eine Krise des gegenseitigen Respekts zu geben. Wie gehen wir damit um?
Haben wir als Kirchen, als Christen zur Alltagsethik etwas beizutragen? Zu-gestanden: Auch die Theologie hat sich mit dieser kleinen Münze der großen Ethik in den letzten Jahren nur beiläufig befasst! Andererseits gilt gerade die Kirche als Vertreterin traditionellen Verhaltensmuster: Müssen sich nicht ge-rade Christen besonders gut benehmen? Einerseits steht die Kirche als Ga-rant traditioneller Verhaltensnormen in der Kritik, weil sie es tut, und ande-rerseits, weil sie es nicht genug tut.
Gut protestantisch schauen wir in der Bibel nach, wie es sich damit verhalten könnte. Dabei zeigt sich, dass die Antwort gar nicht so einfach ist. Und doch wird bei einigem Nachdenken klar: Es gibt einen eindeutigen Bezugspunkt für die Entwicklung einer Ethik des alltäglichen Umgangs. Denn der Glaube kommuniziert nicht Normen und Werte, sondern Haltungen und Perspektiven. Das möchte ich ein wenig entfalten.
Der biblische Gedanke der Demut
Beim Blick in das Neue Testament zeigt sich, dass vor allem die Schriften des Apostels Paulus in eine Situation hineinsprechen, die der unseren ziem-lich ähnlich ist: Das frühe Christentum fand sich in einer multireligiösen, hoch pluralistischen Umwelt wieder, so dass pauschale Regeln gar nicht an-wendbar waren. Es musste ein Prinzip des Umgangs gefunden werden, dass es erlaubte, die Regeln des Umgangs je nach Situation zu definieren. Denn die christlichen Gemeinden waren keineswegs homogen: Menschen unter-schiedlicher sozialer, ethnischer und religiöser Herkunft trafen aufeinander, und das erzeugte Konflikte schon auf der untersten Ebene. Die Briefe des Paulus legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Mit rein normativen Direktiven für den Umgang war das Problem nicht zu lösen.
Paulus orientierte sich für die Begründung seiner Maximen an Jesus Chris-tus. Und es diente ihm ausgerechnet eines der am meisten negativ besetzen Wörter aus der heidnischen Umwelt dazu, ein neues Ethos der alltäglichen Umgangs zu entwerfen, das eine Ethik des Respekts beschreibt: Es ist der Begriff der „Demut“.
In seinem Brief an die Gemeinde in Philippi schreibt er:
„Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Sei-ne, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ (Phil 2,3)
In der Antike war mit „Demut“ die Haltung des Sklaven, des Unfreien und des niedrigen Menschen beschrieben. Eines freien Menschen war sie unwürdig. Paulus aber nimmt ausgerechnet dieses kontaminierte Wort und macht es zum Leitbegriff seiner Ethik des alltäglichen Umgangs. Denn die Demut ergibt sich für ihn daraus, dass Christus sich für alle Menschen hingegeben hat – ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Verdienste und Würdigkeit.
Das klingt für heutige Ohren sehr fremd, weil „Demut“ und „Hingabe“ eine äußerst belastete Geschichte durchlaufen haben. Demut wurde als Gehor-sam verstanden, Gehorsam aber als Unterwerfung. Das Christentum hat, gerade in Fragen der Erziehung, ein autoritäres Erbe, das wir nicht leugnen können. Wir müssen also unsere traditionellen Begriffe dekonstruieren, um freilegen zu können, welchen Impuls sie einmal hatten. Wir sind inzwischen durch die aufklärerische Kritik so sehr gewöhnt, gerade die Ethik der frühen Kirche als repressiv, leibfeindlich und reaktionär wahrzunehmen, dass wir dabei leicht übersehen, welch starken emanzipatorischen Impuls sie hatte, der zu großen sozialen Umwälzung in der antiken Welt führte.
Tatsächlich liegt hinter „Demut“ bei Paulus ein neues Verständnis von menschlicher Würde, das eine der Wurzeln unseres modernen Begriffs der Menschenwürde ist. Denn die menschliche Würde ergibt sich für Paulus dar-aus, dass Gott den Menschen seiner Liebe würdigt. „Demut“ meint dann nicht die erzwungene Unterwerfung eines Sklaven unter seinen Herren, son-dern die freiwillige Zuordnung von Menschen zueinander, die einander eine gottgegebene Würde zugestehen. Dem Bewusstsein der eigenen Würde ent-spricht das Bewusstsein für die Würde der anderen. Das christliche Ethos ist in seinem Kern auf Gegenseitigkeit angelegt.
Das christliche Ethos
Wer höflich, respektvoll und wertschätzend mit anderen umgeht, gibt also seiner menschlichen Bestimmung erkennbaren Ausdruck! Er lebt im dankba-ren Staunen über die Schönheit und Erhabenheit der Schöpfung und die Wür-digung des Menschen durch Gottes Liebe. Wer Demut lernt, versteht sein Leben als Dienst an den Nächsten. Das mag ungewohnt klingen, verändert aber unsere Sichtweise.
Stets gilt es die Balance zwischen der eigenen Freiheit und der Freiheit der anderen zu halten. Es geht nicht darum, Tugendkataloge einer vergangenen Zeit zu beschwören – seien es die Antike oder das Preußentum. Die morali-sche Zumutung des Glaubens besteht vielmehr darin, dass er nach der je-weiligen Zeit fragt, innerhalb derer er lebt, und die Regeln immer neu be-stimmt.
Aus dieser Position heraus kann ein genaues Bewusstsein dafür gewonnen werden, was eben nicht geht: Herabwürdigung von Einzelnen oder Institutio-nen, öffentliche Brandmarkung und Bloßstellung von Menschen, rassisti-sche, nationalistische oder sexistische Äußerungen müssen als unchristlich benannt werden! Respekt und Höflichkeit als Haltungen der Wertschätzung und Würdigung sind demgegenüber sehr christliche Verhaltensweisen.
Das fängt bei solch alltäglichen Fragen an, ob und wie wir einander begrü-ßen, wie wir uns bei Tisch benehmen und wer wen ausreden lässt. All dies muss aber in einer modernen und pluralen Gesellschaft durch Kommunikati-on ausgehandelt und vereinbart werden! Die neue Zumutung besteht darin: Wir müssen höflich und respektvoll miteinander austarieren, was Höflichkeit und Respekt bedeuten. Sich dem zu verweigern, ist schlichtweg unmoralisch und findet in Fake-News und Hate-Speeches seine Ausdrucksformen.
Vielleich besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine der wichtigsten Aufgabe der christlichen Kirchen für unsere Gesellschaft darin, dass wir den ethi-schen Diskurs über diese Herausforderung in Gang halten und um Verständ-nis dafür werben, Formen zu entwickeln, wie Menschen unterschiedlichster Herkunft und Sozialisation miteinander angstfrei, offen und respektvoll um-zugehen lernen. Das fängt in den Familien an und geht über die Kindergärten bis zur Schule. Sie sind die primären Orte, in denen eine Erziehung zum gu-ten Umgang miteinander eingeübt werden kann.
Aber andere tragen ebenso dazu bei – oft gerade nicht zum Vorteil: Vor allem jene, die inzwischen über das Internet als sogenannte „Influencer“ erhebli-chen Einfluss vor allem auf Jugendliche besitzen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir die Bedeutung dieser Entwicklung für unsere Überlegungen zum Thema „Erziehung“ wirklich erfasst haben.
Das Netz entwickelt sich zum Ort von Radikalisierung, Verschwörungstheo-rien und Verbreitung von schlichten Lügen und sammelt so Menschen in ei-ner derartigen Dichte an, wie sie in der sogenannten „real world“ nie erreicht würde. Es entsteht ein Resonanzraum der Simplifizierung, Verrohung und Selbstverstärkung extremer Anschauungen und Verhaltensweisen. Das ver-leiht den Nutzern das trügerische Gefühl, den Mainstream zu repräsentieren. Dabei spielen neuerdings auch „Chatbots“ eine Rolle: Das sind Kommunika-tionscomputer, die auf bestimmte Argumenta¬tionsverläufe programmiert sind und inzwischen eine Komplexität erreicht haben, für die der traditionelle Test zum Erkennen von künstlicher Intelligenz nicht mehr ausreicht. Die Heraus-forderung besteht darin, dass für die Mehrzahl der Jugendlichen unter 20 Jahren die traditionellen Medien, vor allem die Printmedien, mit ihrer ver-gleichsweise durchschaubaren journalistischen Abfederung immer weniger eine Rolle spielen. Die sich rasant entwickelnde Szene der „Influencer“, die über die sozialen Netzwerke Millionen Nutzer erreichen, ist für die problema-tische Entwicklung des gesellschaftlichen Tons mit verantwortlich, und sie ist schon längst nicht mehr nur auf Werbung bezogen. Hier gilt die alte Regel im Umgang mit Gerüchten: Es bleibt immer etwas hängen!
Aber wie beeinflusst man die Influencer? Und wie befähigen wir Menschen, damit verantwortlich umzugehen? Die Rolle von Vorbildern darf man in der Erziehung nie unterschätzen. Die alltäglichen Tugenden werden durch Nach-ahmung eingeübt, nicht durch theoretische Diskurse. Mit reinen Appellen wird man also niemanden erreichen.
Dennoch sollten wir die Tugenden des alltäglichen Umgangs auch wieder zu theoretischen Ehren kommen lassen: Denn „wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“. Respekt ist die kleine Münze der Würde, Höflichkeit ist die kleine Münze der Freiheit.
Ich komme zum Schluss: Unreflektiertes Geschrei und enthemmtes Geplärr sind zutiefst respektlos und unhöflich. Wir leben in einer Zeit der schnellen Empörung. „Empört euch!“, lautete 2010 der Titel eines Essays von Stépha-ne Hessel – hier in Thüringen wahrlich kein Unbekannter. Doch ich setze bei allem Respekt gegenüber Stéphane Hessel, den ich in Weimar kennenlernen durfte, seinem fulminanten Aufruf zur politischen Empörung eine wichtige Erkenntnis aus dem Weisheitsdenken des Buches Sirach entgegen: „Eifer und Zorn verkürzen das Leben“ (Sirach 30,24).
Das klingt banal und lebenspraktisch – und ist es auch, denn es bedeutet: Erst einmal tief Luft holen! Und anstatt gleich loszuschreien oder zu twittern, zuerst zurückfragen und versuchen, die kritische Situation zu klären. Das verlangt ein gewisses Maß an Distanzierung und Selbstzurücknahme. Aber sich selbst zurückzunehmen stand im antiken Katalog der Kardinaltugenden als „Mäßigung“ an prominenter Stelle und ist Ausdruck recht verstandener Demut. Diese Grundhaltungen können den Boden bilden, auf dem ein höfli-cher Umgang und gegenseitiger Respekt wachsen, ohne in Verstellung, Künstlichkeit oder bloßer Konvention zu erstarren.
Das alles lässt sich gemeinsam einüben – in der Kirche ebenso wie in Poli-tik und Gesellschaft: und zwar in gegenseitiger Wahrung und Achtung der Würde, die Gott uns gegeben hat.