05.12.2018
Rede von Landesbischöfin Ilse Junkermann zum Adventsempfang der Evangelischen Kirchen in Thüringen

"Heimat - Renaissance eines Begriffs im 21. Jahrhundert" - Vortrag am 5.12.2018  

 

Sehr geehrter Frau Vizepräsidentin des Thüringer Landtags, liebe Frau Marx,

sehr geehrte Frau stellvertretende Ministerpräsidentin, liebe Frau Taubert,

sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Dr. Kaufmann,

sehr geehrter Herr Bischof, lieber Bruder Dr. Hein,

sehr geehrte, liebe Damen und Herren mit unterschiedlichen Aufgaben und Ehre und gleicher Würde,

liebe Schwestern und Brüder!

 

 „Heimat“ – Renaissance eines Begriffs im 21. Jahrhundert – zu diesem Thema möchte ich heute Abend zu Ihnen sprechen.

Erlauben Sie mir einen

  1. Persönlicher Einstieg

denn „Heimat“ ist ein existentielles Thema.

Als das Ende meiner Amtszeit in der Öffentlichkeit in den Blick kam, wurde ich immer wieder gefragt: „Und, gehen Sie wieder zurück in Ihre Heimat?“ Diese Frage hat mich irritiert, mehr noch: zunächst sogar richtig geärgert. Und ich habe mich gefragt: Was denken die Menschen? Dass ich es nicht ernst meinte die letzten Jahre, als ich hier durch die neue Aufgabe auch eine neue Heimat fand? Dass eine solch neue Heimat doch nur eine Heimat auf Zeit sei? Oder steht hinter dieser – mir wirklich oft gestellten Frage – die Erfahrung: Wer hierher kommt (aus dem Westen), der und die bleibt nicht; der und die geht auch wieder?

Beim Nachdenken über diese Frage wurde mir persönlich deutlich: Fremd war und fremd ist mir ein Verständnis von Heimat, das sich an einem bestimmten Ort festmacht.  Seit dem Weggang aus meinem Heimatdorf im Alter von 19 Jahren habe ich in Studium und Berufsleben an insgesamt neun Orten gelebt – und elf Umzüge bewältigt. Welcher dieser zehn Orte ist mir Heimat? Jeder ein Stück weit! An jedem Ort habe ich Beheimatung durch Menschen erlebt und erfahren. Durch gute Nachbarschaft, durch verbindliche Gemeinschaft (in den Kirchengemeinden und meinen Diensten), durch neu gewachsene Freundschaften. Und – ja – auch durch Konflikte und Auseinandersetzungen, dann, wenn sie ausgetragen werden konnten und die daraufhin neu errungene Gemeinschaft umso kostbarer wurde.

Heimat verorte ich also zunächst nicht geografisch. Denn Heimat hat für mich persönlich vor allem mit Menschen zu tun. Mit Menschen, mit denen ich zusammenkomme, unterwegs bin, Leben lebe und gestalte.

Allerdings: Mein Heimatort löst auch bei mir Heimatgefühle aus; wenn ich mich mit dem Auto meinem Heimatdorf nähere und die Hügel sehe, die es schützend umrahmen, wenn ich die Ruhe spüre, die in diesem Dorf zu Hause ist, oder am Rand des kleinen Flusses, der Jagst, stehe – da regt sich etwas in mir.

Wie sehr mich die Nähe eines Flusses beheimatet, das ist mir in meinen ersten Wochen in Magdeburg aufgefallen: Als ich die wenigen Schritte von meiner Wohnung an die Elbe ging, habe ich mich überraschenderweise von jetzt auf gleich entspannt und geborgen gefühlt, heimisch. Das ist bis heute so. Gern sehe ich die vielen kleinen Formen im Wasser, Strudel und Kreise, die Wellen und auch, wie der Himmel sich im Wasser spiegelt. Das erinnert mich an meine Kindheit. Mein Elternhaus lag direkt neben der Jagst, viel kleiner als die Elbe. Ich konnte sie von meinem Bett aus sehen, wenn ich krank war; wir haben an ihr gespielt; wir saßen an ihr und haben gelesen, während unsere frisch gewaschenen langen Haare in der Sonne trockneten. Die Jagst war uns vertraut wie das Haus und die Eltern und Geschwister, sie gehörte zum Zuhause. Dass es noch andere Orte gibt, dafür stand sie als eine fließende Verbindung hin zu vielen anderen Orten. Genau dies spricht das Lichtkunstwerk des italienischen Künstlers Maurizio Nannucci an der Hubbrücke über die Elbe aus. In blauen Buchstaben leuchtet in die Nacht: „Von so weit her bis hier hin / Von hier aus noch viel weiter.“  So ist die Elbe zu einer beheimatenden Fluss-Brücke geworden über geografische Grenzen hinweg, ja sogar über Zeitgrenzen hinweg zur Heimat meiner Kindheit.

Zusammenfassend ist das Ergebnis meines persönlichen Nachdenkens: Heimat ist für mich wie ein Geflecht von Orten, Landschaftsbildern, Besonderheiten in der Natur und Beziehungen. Dieses Geflecht wächst und wird dichter im Lauf meines Lebens. Neue Beziehungen und neue heimatliche Eindrücke kommen dazu kommen und vermitteln Geborgenheit. Dabei sind die menschlichen Beziehungen das Entscheidende.

So, wie Sebastian Krumbiegel in einem seiner Lieder singt: „Meine Nation sind die Liebenden...“. Das gefällt mir gut. Es sieht Heimat dort, wo Menschen freundlich und liebevoll einander zugetan sind, wo sie füreinander sorgen und nacheinander sehen; wo man friedlich miteinander und mit anderen umgeht; wo man auch offen ist für Andere und sogar für Fremde, weil man sich so geborgen weiß, dass man Andere nicht aus Angst ablehnen und zurückweisen muss; vielmehr willkommen heißt und sich freut, was man neu kennenlernen und Neues hinzulernen kann. „Meine Nation sind die Liebenden.“ Vielleicht habe ich nur deshalb doch eine besondere Beziehung zu meinem Heimatdorf: Weil es der Ort ist, an dem ich Liebe erfuhr und Liebe gegeben habe.

Nun ist der persönliche Einstieg etwas länger geworden. Ich hoffe, er hat Sie angeregt, über Ihre Heimat und Heimaterfahrungen nachzudenken. Denn, wie gesagt, „Heimat“ ist ein existentielles Thema. Und, Heimat ist ein umstrittenes Thema, wenn weniger die persönliche Dimension im Blick ist, wenn sie vielmehr als öffentliche und politische Dimension neu zum Thema wird. Deshalb

  1. Hintergrund der Themenwahl „Heimat“ und Begriffsklärung

Angeregt hat mich zu dieser Themenwahl für den Vortrag heute Abend insbesondere die Diskussion um die Erweiterung des Bundesinnenministeriums um die Themen ‚Bau’ und ‚Heimat’. Die Diskussion um das neu geschaffene Heimatministerium entflammte Anfang dieses Jahres im Zuge der Koalitionsverhandlungen für die Groko.

Nicht wenige rieben sich die Augen, auch ich. „Heimat“ - ist dieser Begriff nicht längst überholt, mehr noch: durch die deutsche Geschichte verbraucht? Vielfältig missbraucht durch eine ideologische Überhöhung, die nach innen Geborgenheit verspricht, allerdings um den hohen Preis der Anpassung an alles, was als „deutsch“ gilt auf der einen Seite und den ebenso hohen Preis der Abgrenzung und gewaltsamen Ausgrenzung gegenüber jenen, die als ‚fremd‘ angesehen, ja, definiert werden. Genau so begannen die Pogrome gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, gleich zu Beginn des Naziregimes.

Ist es angesichts dieser von Tod und Vernichtung gezeichneten Spur des Wortes „Heimat“ in unserer Geschichte möglich, das Wort wieder als einen so neutralen Begriff zurück zu gewinnen, wie er in Wörterbüchern definiert wird?

Das Grimmsche Wörterbuch hält fest[1]:

„... heimat ist seit dem 15. jahrh. aus verschiedenen gegenden nachweisbar“. Es wird entweder lokal verstanden als Geburts- oder Aufenthalts- bzw. Herkunftsort; oder als „das elterliche haus und besitzthum heiszt so, in Baiern ..., woraus der sinn haus und

hof, besitzthum überhaupt sich ausbildet, (...)“. Schließlich wird es

„ in freierer anwendung“ gebraucht:

„a) dem christen ist der himmel die heimat, im gegensatz zur erde, auf der er als gast oder fremdling weilt ...

b) dichterisch: ... wie Ulyss nach zwanzig jahren, in der wünsche heimath ruht.

c) redensarten. in Baiern heiszt ein zweckloses, ungegründetes geschwätz ein schmaz, der keine heimat hat“.[2]

 

Ohne jetzt auf alle Aspekte eingehen zu können, eines fällt auf: Abgrenzung gegen andere ist Anfang des 19. Jahrhunderts kein Bestandteil des Begriffs „Heimat“.

Wie erklärt der Duden den Begriff?

„Land, Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend)

Ursprungs-, Herkunftsland eines Tiers, einer Pflanze, eines Erzeugnisses, einer Technik o. Ä. (...)“

Auch hier keine Spur von Abgrenzung.

Diese ist schließlich in einer umfangreichen Definition im Brockhaus zu finden, ich zitiere daraus nur diesen einen Satz:

„In soziologischer Hinsicht zählt Heimat in Komplementarität zu Fremde zu den Konstitutionsbedingungen von Gruppenidentität“.[3]

Grund dafür ist eine Entwicklung im 19. Jahrhundert: Dort wird der Begriff „Heimat“ an Besitz und Eigentum gebunden, erkennbar im sog. „Heimatrecht“. Das Heimatrecht gesteht den Besitzenden Rechte zu (Ansiedlung, Erlaubnis zur Heirat, zu einem Gewerbe, soziale Absicherung), die Besitzlosen aber sind „Heimatlose“, ohne Wahlrecht. So kommt der Aspekt der Ausgrenzung, des Ausschlusses zum Heimatbegriff hinzu und findet seine Ausformung dann in der Nationalstaatenbewegung.

„Erst die Menschenrechtserklärung der UNO von 1948... koppelte das Heimatrecht an die Existenz der Person und nicht mehr an die besondere Rechtslage eines Ortes oder an das Vorhandensein von Besitz.“[4]

So ist deutlich: Der Begriff „Heimat“ ist nicht neutral, mit immer gleicher Bedeutung. Wie Heimat verstanden wird, darin spiegelt sich die zeitgeschichtliche und die gesellschaftliche Situation wider.

Der Innsbrucker Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Timo Heimerdinger fasst die geschichtliche Entwicklung wir folgt zusammen: „Bezeichnete der Heimatbegriff zunächst ganz nüchtern den Ort der biografischen Herkunft samt dem Recht auf Ansässigkeit und Versorgung, so erfuhr er ab Ende des 18. Jahrhunderts wiederholt tiefgreifende Aufladungen, Um- und Neudeutungen. Der romantischen Lesart eines ländlich-idyllischen Früher folgte zunächst eine bürgerlich-utopische und schließlich eine bürgerlich-nationale Neudeutung, die dann auch territorial-völkische Vereinnahmungen erfuhr. Konstant bleib der Aspekt einer ästhetisch überhöhten Naturverherrlichung, die nicht zuletzt in vielen Varianten der so genannten Heimatliteratur oder der Heimatlieder bis heute deutlich erkennbar ist ...“[5] .

Welche aktuelle gesellschaftliche Entwicklung spiegelt sich also in der Renaissance des Begriffs „Heimat“ wieder, wie wir sie in den letzten vier bis fünf Jahren erleben?

  1. Renaissance eines Begriffs – Mutmaßungen über Gründe und Hintergründe und eine Unterscheidung

Ich habe in diesem Jahr eine reiche Sammlung von Artikeln, auch Büchern angelegt, um gezielt zu verfolgen, wie die Renaissance des Begriffs „Heimat“ begründet wird. Daraus habe ich eine Reihe von Erkenntnissen gewonnen:

Klar ist: Einer der Auslöser für die Renaissance des Heimatbegriffs auch in der politischen Mitte unserer Gesellschaft ist sein Missbrauch durch Populisten und Extremisten am rechten Rand. Insbesondere seit der sog. Flüchtlingskrise im Jahr 2015 gewinnen sie mit diesem Begriff viele Menschen. Wie das gelingen konnte, zeigen tiefergehende Analysen. Sie konstatieren eine große Verunsicherung vieler Menschen angesichts einem Konglomerat von Entwicklungen, allesamt wenig überschaubar. Ich nenne die Stichworte: Globalisierung, Mobilität, Digitalisierung, Deinstitutionalisierung, Individualisierung, Pluralisierung und ja, Migration. Dazu kommen, v. a. in den ländlichen Räumen große Verlusterfahrungen, Verlust an dem, was der Gemeinschaft dient: Gasthäuser schließen, ebenso Clubhäuser und Vereinsräume, auch viele Pfarrhäuser sind nicht mehr bewohnt, Buslinien werden eingestellt. Schon das alles lässt das Gefühl entstehen, auch selbst weniger wert zu sein. Ein Gefühl, das hier in den neuen Bundesländern seit der friedlichen Revolution, die zur „Wende“ wurde, tief in den Menschen Raum gegriffen hat. Die vielen Veränderungen und die immer noch bestehenden Unterschiede zwischen West und Ost, die immer wieder und immer noch signalisieren: ‚Das und die hier, wir hier sind weniger wert‘. Es erstaunt nicht wirklich, welchen Stellenwert das Thema „Heimat“ bei den Menschen hier in Thüringen lt. des jüngsten Thüringen Monitors hat.[6]

Was hilft Schneisen schlagen in dieses Geflecht von Entwicklungen? Was verspricht Orientierung und Sicherheit? „Heimat“ scheint da das richtige Stichwort. Mit ihm wird Vertrautes aktiviert. Bei „Heimat“ denken wir an: Da bin ich zu Hause, da komme ich her, da fühle ich mich wohl, da ist man mir wohlgesonnen. Weil aber auch dem Einfältigsten auffällt, dass es diese heile Welt gar nicht gibt, müssen vermeintliche Störungen abgewehrt werden. Deshalb wird ein Schutzraum versprochen, nur für die Einheimischen, unweigerlich verbunden mit massiver Ausgrenzung und Abwehr dessen und derer, das und die vermeintlich nicht hinzugehören. Weil aber unsere Gesellschaft seit Langem bereits von Zuwanderung und Globalisierung geprägt ist, in den alten Bundesländern deutlich stärker als in den neuen, stellt sich die Frage: Wer sind die „Einheimischen“? Denn Besitz, Arbeit, Sprache – all das trennt nicht oder kaum mehr zwischen Zugewanderten und Alteingesessenen; deshalb werden. So bleiben als Kriterien für die Ab- und Ausgrenzung die Religion und die Frage der Herkunft aktiviert. Letzteres bei Lichte besehen nichts anderes als die Aktivierung der nationalsozialistischen „Blut- und Boden-Ideologie“, bei Ersterem (also der Frage nach der Religion), könnte man in der Geschichte noch weiter zurückgehen bis hin in die Zeit der Kreuzzüge. In der Tat erhielt ich vor kurzem den Ratschlag – und er war noch nicht einmal polemisch gemeint, sondern ernsthaft formuliert – doch wieder zu einem Kreuzzug aufzurufen.  Ich greife diese zwei historischen Schreckensbilder auf, um die Gefahr deutlich zu machen, wenn „Heimat“, rückwärtsgewandt verstanden wird; und als ein festes statisches Gebilde, das Individuen vereinnahmt zu einem allgemeinen „Wir“, wenn z. B. von „unserer Heimat“ die Rede ist. So wird „Heimat“ vom rechten Rand genutzt wird.

Diesen populistischen Gebrauch abwehren, das ist eines der Motive für die Renaissance des Begriffs Heimat auch in der politischen Mitte. Zwei Stimmen dazu aus der Vielzahl meiner Wahrnehmungen:

  • Mike Mohring machte sich 2017 in der Funktion als Vorsitzender der Konferenz der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden für die Wiedergewinnung des Heimatbegriffs stark; denn, so Mohring gegenüber der Rhein. Post, „man wolle den Begriff nicht den Populisten überlassen“[7].
  • Ähnlich begründete der Bundespräsident in seiner Festrede zum 3. Oktober 2017: „Diese Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ‚Wir gegen Die‘; als Blödsinn von Blut und Boden; die eine heile deutsche Vergangenheit beschwören, die es so nie gegeben hat. Die Sehnsucht nach Heimat – nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und vor allen Dingen Anerkennung –, diese Sehnsucht dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen.“

Das geht allerdings nur, wenn „Heimat“ anders, wenn der Begriff positiv besetzt wird.

Eine Kommentatorin der SZ hebt folgende Aspekte hervor:

  • „Heimat ist der Gegenbegriff zu Globalisierung. Es ist ein sinnvolles politisches Vorhaben, diesen Begriff prägen zu wollen.“
  •  „Heimat kann auch für Menschen, die nicht nationalistisch und noch nicht einmal konservativ denken, ein Begriff sein, der positiv besetzt ein Gefühl von Teilhabe vermittelt.“[8]
  •  „‚Heimat‘ greift Emotionen auf, die Sehnsucht nicht nur nach Überschaubarkeit, sondern nach Mitgestaltung.“

Und noch einmal der Bundespräsident:

  • „Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit.…“
  • „ ... verstehen und verstanden werden – das will jeder, und das braucht jeder, um sein Leben selbstbewusst zu führen. Verstehen und verstanden werden – das ist Heimat.“

Und er macht in seiner Rede auf etwas Besonderes aufmerksam:

  •  „Ganze Generationen von Zuwanderern sagen heute voller Stolz: ‚Deutschland ist meine Heimat‘, – und das hat uns bereichert. Das sollte uns Zuversicht geben für die großen Integrationsaufgaben, die vor uns liegen. Doch wir sagen auch: Heimat ist offen – aber nicht beliebig.“[9]

 

Dieses Verständnis von Heimat ist ein dynamisches.

Ein dynamisches Verständnis von Heimat hat folgende Merkmale:

  • es ist am einzelnen Menschen orientiert (im Gedanken der Teilhabe und des ‚verstehen und verstanden werden‘) und unter dem Aspekt der menschlichen ‚Sehnsucht‘ nach Geborgenheit, Wohlgesonnen-, Aufgehobensein;

Ein dynamisches Verständnis …

  • nennt die Probleme , Beschwernisse und Bedürfnisse von Menschen im 21. Jahrhundert beim Namen: ‚Globalisierung‘, ‚Überschaubarkeit‘, erhebliche Unterschiede zwischen Stadt und Land;
  • es versteht „Heimat“ zuvörderst als Beziehungsgeflecht (‚verstehen und verstanden werden‘),
  • und es erkennt in „Heimat“ einen Ort, der Emotionen bindet;
  • es ist geschichtsbewusst und zugleich an der Zukunft orientiert; und nicht zuletzt
  • ist es offen für Fremdes, Neues, Anderes. Es ist offen für Integration.

 

Ein solches dynamisches Verständnis von Heimat – mit diesem kann ich viel anfangen. Ich finde es auch in den Beschreibungen wieder, die auf der Homepage des Bundesinnenministeriums die Aufgabe der Abteilung H (für „Heimat“) zusammenfassend beschreibt: Die Abteilung H „ist verantwortlich für die Gestaltung der Heimatpolitik der Bundesregierung. Zu den Aufgaben der Abteilung gehört es, auf der Grundlage eines modernen, zukunftsgewandten Heimatverständnisses den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen städtischen und ländlichen Räumen im gesamten Bundesgebiet zu schaffen. Die Aufgaben umfassen die Gestaltung aller Fragen des Zusammenlebens von der Integration bis zum bürgerschaftlichem Engagement, die Arbeit der Kommission ‚Gleichwertige Lebensverhältnisse‘ unter unterschiedlichen thematischen Aspekten wie Daseinsvorsorge, Mobilität und Demografischer Wandel sowie die Raumordnung, Regionalpolitik und Landesplanung“.[10]

Ein solches dynamisches, auf Gerechtigkeit und gelingende Gemeinschaft zielendes Verständnis von Heimat hat seine Wurzeln in der Bibel.

  1. „Unsere Heimat ist im Himmel“: Was theologisch zu „Heimat“ zu sagen ist

Das Wort „Heimat“ kommt in der Bibel nicht vor. Aber natürlich: die Bibel kennt, was Heimat meint. In den biblischen Geschichten, sowohl in der Hebräischen Bibel, die wir Christen Altes Testament nennen, wie im Neuen Testament, finden wir wichtige Aussagen zu Heimat. Beginnend und grundlegend bei Abram und Sara ist Heimat mehr ein Beziehungsgeflecht und Beziehungsgeschehen als ein zu lokalisierender Ort. Schon die Aufforderung Gottes an Abram, sein Land zu verlassen, ist mehr an seine bisherige Einbindung in das soziale Gefüge seiner bisherigen Heimat als an den Ort gerichtet, wenn Gott zu ihm sagt: „Geh weg von allem, mit dem Du verbunden bist: weg vom Land, weg von der Großfamilie, weg vom Vaterhaus.“[11]  Das meint: Geh raus aus allem: aus dem, was dich bindet (Land), aus dem, mit dem Du verbunden bist (Großfamilie), aus dem, was dich geprägt und aus dir ein Individuum hat werden lassen(Vaterhaus). Von all dem soll Abram sich lösen. Und was kommt an dessen Stelle? Gottes Wort! Indem Abram auf Gottes Wort hört und diesem traut, wird dieses sein neuer und einziger Halt. Und die Botschaft lautet: genau darin liegt Segen, genau dies wirkt Segen.

Die Bibel ist durchgängig kritisch gegenüber lokalisierbaren Heimatkonzepten und stellt ihnen konträr gegenüber die Hinwendung zu, den Glauben an und das Vertrauen auf Gott. Denn Gottes Wille ist gelingende Gemeinschaft unter den Menschen, man könnte auch sagen: Das ist Heimat im biblischen Sinne. Die 10 Gebote, die das Volk Israel am Horeb erhält, stehen für die Grundrichtung von Gottes Wort, sie beheimaten das Volk, das von Gott aus der Ungerechtigkeit, der Sklaverei befreit wurde, das aber noch nicht im gelobten Land, sondern weiterhin unterwegs ist. Gottes Wort und Gebot zielen auf gelingende Gemeinschaft;  sie beheimaten auch in der Fremde, sogar im Heimatlos-Sein (Bsp.: babylonisches Exil).

‚Glaube gibt Heimat‘. Das ist der große Erfahrungsschatz des Volkes Israel bis heute: Gott ist ein Gott, der mitgeht; der aus Unfreiheit herausführt, der in ein Land führt, in dem Gerechtigkeit und Friede herrschen sollen. Wo jeder und jede zu seinem und ihrem Recht kommt, weil jeder und jede Gottes Geschöpf ist.

So ist Unterwegs-Sein, sich nicht festsetzen und einrichten, geradezu ein Markenzeichen für Glauben.

Auch Jesus ist unterwegs, zieht weg aus Nazareth, hat keinen festen Ort; allein wichtig sind ihm die Menschen, ist die Gemeinschaft in die er zurück hol1, die am Rande der Gesellschaft sind oder gar aus ihr ausgeschlossen waren: Die Kranken, die Versager, die Sünderin, der Zöllner –um all diese Menschen wieder zu beheimaten in der Gemeinschaft aller. Und als Auferstandener schickt er seine Jünger auf die Straßen der Welt: „Gehet hin in alle Welt“. Verbindet die Menschen mit Gott, durch die Taufe, damit Gemeinschaft wird und Gemeinschaft gelingt.

Heimat ist etwas, das noch keinen Ort hat, eben weil Gemeinschaft immer wieder misslingt, scheitert, nur gelingt auf Kosten derer, die ausgeschlossen werden. Heimat ist Utopie, ganz im Sinne des Wortes: u-topos, noch ohne Ort auf Erden.Gerade darum ist das biblische Verständnis unseres Wortes Heimat offen und in die Zukunft ausgerichtet, denn: „Unsere Heimat“ – oder wie es der Apostel Paulus benennt: unsere „Bürgerschaft als Christen“ – „ist im Himmel.“[12]

Deshalb haben wir, wie es dann im Hebräerbrief heißt: „... hier keine bleibende Stadt, sondern die künftige suchen wir“[13]. In dieser künftigen, mit Gott als Zeltnachbar der Menschen – ein Bild aus dem letzten Buch der Bibel – erst in dieser künftigen Stadt Jerusalem wird Gemeinschaft vollkommen gelingen.

Diese himmlische Heimat leuchtet bereits auf die irdische und gibt mir von dort her eine Orientierung. Das hilft mir, mir kleinem Menschen, dem das ständige Unterwegs-Sein auch lästig ist, die ich so gern manchmal schlicht angekommen sein und zu Hause sein möchte – es hilft mir, mich in meinem Leben nicht zu fest zu setzen. Es bewahrt mich auch davor, mir eine eigene kleine, heimatliche Welt ohne Blick für meine nahen und fernen Nächsten schaffen zu wollen, eine Welt, die doch vergeht.

Das ist Glaube. Und dieser Glaube ist Heimat. Der Titel unserer Kirchenzeitung erinnert daran, wie sehr „Glaube“ vor „Heimat“ kommt, ja, dass nur „Glaube“ tatsächlich beheimatet.

 

Ich meine: Dieses biblische Verständnis von Heimat ist überraschend aktuell, und es ist wegweisend für unseren Umgang mit dem Begriff „Heimat“, der gerade in so vieler Munde ist. Denn es ist ein dynamisches Verständnis. Es ist nicht festgelegt, es ist von der Zukunft her bestimmt. Es schließt nicht aus, es besitzt inklusiven Charakter. Es setzt sich nicht absolut, es weiß um Gott als den Herrn der Welt. Und deshalb ist „Heimat“ biblisch gedacht immun gegenüber populistischem Missbrauch.

  1. Weihnachten – ein Heimatfest? Ausblick

Zuletzt ein Gedanke zu Weihnachten.

Die Weihnachtsgeschichten nach Lukas und Matthäus werden selten unter der Überschrift „Heimat“ gesehen. Sie scheinen für das Gegenteil zu stehen: Maria und Josef sind gerade eben nicht zu Hause, vielmehr unterwegs. In Bethlehem finden sie nicht die Geborgenheit einer Wohnung, sie finden lediglich einen Stall. Und kurz darauf wird die Heilige Familie sogar zu Flüchtenden, weil der weltliche Herrscher in dem Neugeborenen eine Gefahr für sich sieht.

Und dennoch ereignet sich in der Heiligen Nacht eine Beheimatung der besonderen Art. Nämlich als Geflecht von Beziehungen Gott bringt Menschen im Stall zu Bethlehem zusammen. Maria und Joseph, das Elternpaar; die Hirten, und im Himmel die Engel, die himmlischen Heerscharen.

 

Wie die Hirten

Sich zuneigen

Geborgenheit schenken

Sich schützend um die stellen

Die ohne Schutz und Obdach sind

Fern ihrer Heimat

wird Heimat.

Durch: Nahesein

Zueinanderstehen

Einander beistehen.

 

Insofern ist Weihnachten ein Heimatfest! Im doppelten Sinne. Gott kommt im Kind zu uns. Und gibt damit unserem Leben Heimat bei sich.

Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie diese Beheimatung auch in diesem Jahr erfahren und erleben.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 

[1] vgl. zum Folgenden: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis

Leipzig 1971. Bd. 10 Sp. 862 ff., Online-Version vom 22.11.2018.

[2] neben 23 weiteren Komposita mit „Heimat“ (so auch das nicht mehr gebräuchliche Adjektiv „heimatsüchtig“ für ‚Heimweh‘); vgl. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB; die folgenden Zitate nach: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GH05424#XGH05424

[3] http://www.transodra-online.net/de/node/1380

[4] ebd.

[5] Timo Heimerdinger: Heimat – individuell oder kollektiv? Eine kulturwissenschaftliche Studie zwischen Mobilität, Ministerium und Molkerei, in: PTh 4/2018, 207

[6] Vgl. auch Christian Schüle: Heimat, Ein Phantomschmerz, München 2017

[7] „Mia san wer“ – Artikel in der FAZ vom 7. 2. 2018, vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/heimatministerium-der-traum-der-csu-und-bayern-15438036.html,  aufgerufen am 30. 11. 2018

[8] Karin Janker: Deutschland braucht ein Heimatministerium, Kommentar auf SZ.de am 8. Februar 2018, vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/csu-seehofer-heimatministerium-kommentar-1.3859606, aufgerufen am 30. 11. 2018, daraus auch die folgenden Zitate

[9] zitiert nach: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2017/10/171003-TdDE-Rede-Mainz.html; und er fährt fort: „Ich glaube, Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen. Heimat ist der Ort, an dem das ‚Wir‘ Bedeutung bekommt. So ein Ort, der uns verbindet – über die Mauern unserer Lebenswelten hinweg –, den braucht ein demokratisches Gemeinwesen und den braucht auch Deutschland. (...) Wir sollten „wieder lernen, einander zuzuhören: wo wir herkommen, wo wir hinwollen, was uns wichtig ist.

Wenn ein Ostdeutscher erzählt, wie seine Heimat in der DDR sich nach der Wende radikal verändert hat – dass die neue Freiheit nicht nur Ziel von Sehnsucht, sondern auch eine Zumutung war, dass im Wandel vieles verloren ging, was man doch halten wollte – dann gehört auch das zu unseren deutschen Geschichten. Die Herstellung der Einheit war ein gewaltiges Werk. Natürlich wurden auch Fehler gemacht in den Jahren nach 1990 – und es gibt keinen Grund, darüber zu schweigen. Ostdeutsche haben nach der Wiedervereinigung Brüche erlebt, wie sie meine Generation im Westen nie kannte. Und dennoch sind diese ostdeutschen Geschichten kein solch fester Bestandteil unseres ‚Wir‘ geworden wie die des Westens. Ich finde, es ist an der Zeit, dass sie es werden.

 

[11] Gen. 12, 1

[12] Phil 3,20

[13] Hebr. 13,14


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