Landesbischof Friedrich Kramer

Predigten, Reden, Statements


02.04.2021
Karfreitagsgottesdienst am 2. April 2021 im Magdeburger Dom

Predigt von Landebischof Friedrich Kramer

Der ganze Psalm 22 und Karfreitag

Die letzten Worte Jesu nach dem Johannesevangelium waren „Es ist vollbracht!“, nach dem Markusevangelium und Matthäusevangelium hat Jesus zuletzt gerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“.

An beiden letzten Worten werden Gottesbilder deutlich: bei Johannes scheint Jesus am Kreuz schon erhöht worden zu sein – jedenfalls sind seine Schmerzen der Erlösung gewichen. Es ist vollbracht. Während bei Markus der mitleidende und gottverlassene Beter betont wird.

Haben Sie eine Präferenz? Wo bleiben Sie in diesen Tagen der Passion mit Ihren Gedanken hängen?

Ich denke, beides ist notwendig zu glauben: dass Jesus für uns gelitten hat und heute noch mit uns leidet und dass er von Gott erhöht worden ist. Denn über einen der vielen von den Römern Gekreuzigten würde heute keiner mehr reden. Er wäre in Vergessenheit geraten, wenn er nicht auferstanden wäre. Deshalb ist es gut, dass wir den Widerschein des Lichts der Auferstehung im Gesicht des Gekreuzigten schon leuchten sehen. Denn wenn wir die Geschichte vom Ende her, von der Auferstehung, erzählen, kann die Geschichte des Leidens Jesu uns leichter Trost bringen. Und dennoch ist unser größter Feiertag, der Karfreitag, kein Trauertag, sondern ein Tag an dem wir im Sterben Jeus erschrecken über unsere Sünde und Unzulänglichkeit und nicht trauern, sondern dankbar sein dürfen. In allem Leide – Jesu meine Freude.

Hier Gedanken zu Psalm 22, den wir am Anfang des Gottesdienstes ganz gehört und gebetet haben. Jesus betet den ganzen Psalm und dieser Psalm endet nicht mit Gottverlassenheit, sondern mit Errettung und dem Satz: „Denn er hat es getan“ oder anders übersetzt: „Es ist vollbracht“.

Zwischen tiefster Zerstörung und wieder aufkeimender Hoffnung und Verheißung bewegt sich auch unser heutiger Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja, das erste Gottesknechtslied:

Jesaja 52,13-53,12

13 Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein.

14 Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –,

15 so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.

1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des HERRN offenbart?

2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.

3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.

4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.

5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.

6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.

7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.

8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war.

9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.

10 Aber der HERR wollte ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des HERRN Plan wird durch ihn gelingen.

11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.

12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

 

Der leidende Gottesknecht

Auch unser Predigttext aus dem Prophetenbuch des Jesaja im Alten Testament, der vom leidenden Gottesknecht erzählt, klingt vom Ende her anders. Gott sagt zum Ende des Lebens seines Knechts: „Seht, mein Knecht hat Erfolg. Er wird groß sein und hoch erhaben.“

Aber in der Lebensgeschichte des Knechts sieht es gar nicht so aus, als ob er einmal Erfolg haben würde. Schon als „junger Spross“, der auf „trockenem Boden“, also in Armut aufwuchs, schien sein Weg vorgezeichnet.

Bestimmende Themen seines Lebens werden Schmerzen, Krankheit, Misshandlung und ungerechte Anklagen und Verurteilung sein.

Die Parallelen dieses alttestamentlichen Textes zur Leidensgeschichte Jesu waren schon für die ersten Christen offensichtlich. Es war für sie ein Hinweis darauf, dass Jesus der Messias, der gesalbte neue König ist, der von Gott eingesetzt wurde, auch, wenn er zuerst leiden musste wie der Gottesknecht im Buch des Propheten Jesaja.

Unsere jüdischen Geschwister verstehen den Gottesknecht anders, entdecken das Leiden ihres Volkes und die Schmerzen und Verfolgungen darin. Weil sie das erwählte Volk sind, weil sie zu Gott gehören, werden sie verfolgt und geschlagen und gerade unser Volk hat in der dunklen Nacht des Nationalsozialismus das Gottesvolk millionenfach ermordet. Unsere Schuld auf Ihnen.

Christen erkennen im Gottesknecht Jesus Christus, der für uns gelitten hat und gestorben ist, der unsere Krankheit auf sich genommen hat und unsere Sünde.

Gerade in den Tagen der Pandemie, wo das Sterben wieder anschwillt, tritt der kranke und leidende, der geschlagene Gottesknecht vor unsere Augen.

Wer redet schon gerne öffentlich über das Thema Schmerzen? Selbst in Pandemiezeiten tun wir das nicht. Es ist uns unangenehm, zu privat, macht uns schwach im Blick des anderen.

Aber wo, wenn nicht hier in der Gemeinde, und heute, am Karfreitag, kann offen über den Schmerz geredet werden?

 

Die bittende Mutter: Nimm mich!

Geschichte vom sterbenden Sohn an Covid 19 und dem Wunsch der Mutter an ihres Sohnes statt zu sterben (frei erzählt)

 

Dem Schmerz nicht ausweichen

Jesus war voll und ganz Mensch, er litt wie wir Schmerzen, denn Schmerzen gehören zu unserem Mensch-Sein. Wer, wenn nicht er, hätte Verständnis dafür, dass wir an dem Tag, an dem wir sein Leiden und Sterben bedenken, auch unsere menschlichen Schmerzen zur Sprache bringen?

Heute und hier in der Gemeinde oder draußen in Ihrem Bekanntenkreis gibt es viele Menschen, die unter Schmerzen und Krankheit leiden, und die noch mehr darunter leiden, dass nicht darüber gesprochen wird. Unsere Gesellschaft braucht das Reden über die Schmerzen und die Krankheit. Denn Krankheit und Schmerzen isolieren. Das war schon zur Zeit unseres leidenden Gottesknechts so. Jesaja schreibt über ihn:

„Er hatte keine schöne Gestalt, so dass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden. Ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut.“

Schmerz ist nicht schön. Es kostet Überwindung, einen schwerkranken Menschen zu besuchen. Schmerz macht einsam, egal, ob der Leidende sich selbst zurückzieht oder ob er von den anderen gemieden wird. Und Einsamkeit verursacht wiederum mehr Schmerzen. Deshalb will auch ich Schmerzen oft erst nicht wahrhaben. Denn ich möchte nicht zu denjenigen gehören, die erst bemitleidet und dann gemieden werden.

Dabei ist Schmerz ein wichtiges Warnzeichen, das auf Verletzungen und Krankheiten hinweist. Menschen, die keine Schmerzen wahrnehmen – auch das gibt es – haben enorme Schwierigkeiten, Probleme ihres Körpers frühzeitig zu erkennen und behandeln zu lassen.

Menschen fürchten Schmerzen, das kann ich verstehen. Und es ist gut, dass wir heute mit der modernen Medizin viele Schmerzen lindern können. Aber es gibt kein Leben ohne Schmerz.

In der aktuellen Debatte über die Sterbehilfe, die durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor gut einem Jahr ausgelöst wurde, wird das deutlich. Viele Lebensmüde geben an, die Schmerzen nicht mehr ertragen zu können bzw. Angst davor zu haben, Schmerzen zu bekommen.

Es sind wohl nicht nur die Ängste vor den Schmerzen, die eine radikale Lösung fordern lassen, sondern auch die Angst, am Ende allein gelassen zu werden.

Was wäre ein Lichtblick in diesen Schmerzen?

Wir sollten auf uns und auf andere achten, niemanden überfordern, Menschen in Schmerzen nicht alleinlassen, und trotzdem ihre Eigenständigkeit achten.

Und selbst „wenn es nicht so aussieht“, als ob ein Schmerz jemals wieder aufhören wird, keinem den Mut nehmen.

Wie dem Gottesknecht am Ende von Gott zugesagt wurde: „Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht!“ Ja, was hat Gott denn mit unseren Schmerzen zu tun?

Wenn wir die Psalmen lesen, können wir mit diesen hoffentlich sagen: Gott ist mein Tröster in allen Schmerzen und Krankheiten, Gott ist mein Heil und mein Frieden trotz aller Krankheiten.

In unserem Predigttext versuchen die Menschen zunächst das Leiden des Gottesknechtes mit seiner eigenen Schuld vor Gott zu erklären:

„Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt.“

Aber dann kommt eine überraschende Erkenntnis: „Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen.“ „Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Wie kann das sein? Was haben die Schmerzen des Einzelnen mit der Krankheit oder Gesundheit der Gruppe zu tun?

Familientherapeuten kennen das Problem sehr wohl: Wenn es ein gravierendes Problem in einer Familie gibt, wird oft einer, das „schwarze Schaf“ in der Familie krank und trägt so die Schmerzen, die eigentlich alle fühlen müssten. Aber ist das dann eine „Heilung“ des Problems?

Wie bei der Mutter, von der ich gesprochen habe, die die Schmerzen und den Tod nicht für Ihren Sohn übernehmen kann. Die Liebe will dies und Gott, der die Liebe ist kann es. Er übernimmt die Schmerzen und die Krankheit, er erleidet den Tod für uns. Kannst Du das glauben?

Jesaja, der Prophet und Schreiber des Textes, gibt sehr wohl zu, dass alle an den Sünden und Fehltritten beteiligt waren: „Wir hatten uns alle verirrt wie die Schafe, jeder ging für sich seinen Weg“ – das heißt also nicht den Weg, den Gott wollte. Und er fährt fort: „Und der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen.“

War es wirklich der Herr, der die Schuld auf ihn lud – oder war es nicht die Gruppe, von der Jesaja als „Wir“ spricht, die wiederum meinten, dass es Gott war, der ihre eigene Schuld auf diesen einen Gottesknecht lud?

Denn die, die ihm das antaten, was der Text im Folgenden schreibt, waren Menschen, nicht Gott: „Er wurde misshandelt und niedergedrückt. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.“ Er tat seinen Mund nicht auf.

Viele Opfer von Gewalt und Misshandlungen tun ihren Mund wirklich nicht auf. Die meisten denken, dass sie tatsächlich mit schuld an dem sind, was die, die sie quälen, ihnen antun, und sie schämen sich dafür. Bei aller Gewalt und allem männlichen Mißbrauch spielt genau dies immer eine Rolle.

Der weitere Lebensweg des Gottesknechtes in unserem Text liest sich wie der Weg in den Abgrund und in ein endgültiges Ende:

„Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten, und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen. Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.“

Wie viele leiden heute unschuldig und werden verhaftet und verurteilt, nur weil sie verleumdet wurden oder in einem diktatorischen Staat den Mund gegen Unrecht aufgetan haben?

Dann scheint die Geschichte des leidenden Gottesknechts zu Ende zu sein. Er ist verstorben und erhält sein Grab bei „Ruchlosen“ und „Verbrechern“. Doch für Gott ist die Geschichte noch keinesfalls zu Ende: „Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen Knecht, er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab.“

Warum aber lässt Gott es zu, dass der Knecht dann vorher so viel leiden muss?

Die Menschen, die seine Lebensgeschichte sehen und miterlebt haben, sollen durch die Betrachtung seines Leidens „gerecht“ werden, das heißt, sie sollen lernen, wie sie in Gerechtigkeit mit dem Leiden umgehen sollen.

Nachdem der Gottesknecht, „so viel ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht.“ Wer hätte das gedacht? Der leidende Gottesknecht wird hier zum Lehrer, zum Propheten für sein Volk und seine Gemeinde.

Unser leidender Gottesknecht Christus wird zum Erlöser und Heiland aus aller Not, er stirbt für Dich und für mich.

Wir sollen und können, gerade in diesen dunklen Tagen nach den Lichtblicken, nach der Erkenntnis suchen, wie wir am besten und gerechtesten in unserm Leben mit eigenen und fremden Leiden, Krankheit, Schmerzen umgehen können.

Und das bedeutet: Wir wollen Menschen in ihren Schmerzen bis zum Schluss nicht allein lassen. Wir wollen unseren Mund auftun für diejenigen, die Opfer werden von Gewalt und Unrecht. Wir werden Leidende nicht verachten und ihnen nicht den Mut nehmen.

Denn genauso wie der leidende Gottesknecht können auch wir von Gott erhöht werden – wer hätte das gedacht? Wer hätte das gedacht, dass es im Leben auch so ausgehen kann: dass ein depressiver Mensch wieder lachen kann, dass ein Schmerzpatient wieder arbeitsfähig werden wird, dass ein Mobbingopfer den Mund auftut? Ja, wer hätte auch gedacht, dass ein Gekreuzigter wieder aufersteht?

Glaubt, dass Jesus auch in Schmerzen und Leiden, auch im Sterben bei uns ist. Glaubt, dass er mit seinem Tod für uns gestorben ist, dass wir freie und liebevolle Menschen werden, die nacheinander sehen und sich in Not und Schmerzen, in Krankheit und Tod beistehen. Hofft, dass der Glanz seiner Auferstehung in unser Leben scheint und uns heute Mut macht.

Fühlen wir,
Ja, glaubet und hofft.
AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.
AMEN

Predigtlied: EG 94: Das Kreuz ist aufgerichtet


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