PM 157 | 14.10.2019
Zwei Jahre buchstäbliche Handarbeit

EKM und Bistum Erfurt schenken der Jüdischen Landesgemeinde eine neue von Hand geschriebene Tora-Rolle

In einer selten stattfindenden Zeremonie wird der erste Buchstabe in der Erfurter Synagoge feierlich auf Pergament geschrieben Landesregierung bereitet Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ vor.

Die Jüdische Landesgemeinde Thüringen lädt für den 23. Oktober zu einem in Deutschland äußerst seltenem Ereignis ein: zu einer Zeremonie des Schreibens des ersten Buchstabens. Zu diesem (nur) medienöffentlichen Ereignis sind die Mitglieder der Gemeinde sowie Vertreter aus Kirchen, Politik, Gesellschaft und Kultur eingeladen.

Anlass der Zeremonie ist ein Geschenk. Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland und das katholische Bistum Erfurt schenken der jüdischen Gemeinde eine neue Tora-Rolle. Die Tora umfasst die ersten fünf Bücher der hebräischen Bibel und gilt den Juden als ihr wichtigster Teil.

Äußerlich unterscheidet sich die Tora-Rolle nicht nur als aufgerolltes Pergament von den Büchern mit Bibeltexten, die in den christlichen Gottesdiensten Verwendung finden. Diese sind gedruckt, eine Tora-Rolle wird aber von Hand geschrieben, akribisch Buchstabe für Buchstabe, von einem eigens ausgebildeten Schreiber, dem Sofer. Für die Erfurter Tora-Rolle wurde Reuven Yaacobov aus Berlin gewonnen, der nicht nur Sofer, sondern auch Rabbiner ist.

Die ersten Buchstaben und Wörter der neuen Tora-Rolle schreibt Sofer Yaacobov mit einer Vogelfeder in der Zeremonie am 23. Oktober in der Neuen Synagoge in Erfurt auf das Pergament. Zwei Jahre wird er in Berlin und immer wieder auch öffentlich in Thüringen an der Tora-Rolle arbeiten. Dann folgt erneut eine Zeremonie, die des Schreibens des letzten Buchstabens. Die Tora-Rolle ist vollendet und kann fortan in den Gottesdiensten der Jüdischen Landesgemeinde genutzt werden.

Mit ihrem Geschenk an die Jüdische Landesgemeinde unterstreichen beide Kirchen die enge Verbundenheit von Juden und Christen. Beide Religionen verstehen die Tora als von Gott geoffenbarte Heilige Schrift. Juden wie Christen lesen sie privat, in der Familie und ihren Gottesdiensten und versuchen, ihr Leben entsprechend den Weisungen Gottes zu gestalten. Angesichts der herausragenden Bedeutung der Tora ist der 23. Oktober als Termin für die Zeremonie des Schreibens des ersten Buchstabens nicht beliebig gewählt. Am Vortag feiern die Juden „Simchat Tora“, den Tag der Freude an der Tora, denn Tora ist Leben.

Zudem möchten die Kirchen ein gesellschaftliches Zeichen setzen. Seit neun Jahrhunderten leben Juden in Thüringen und bereichern das Land auf den unterschiedlichsten Feldern wie Musik und Kunst, Handwerk, Wissenschaft und Bildung. Als Thüringer gehören sie ebenso zum Freistaat wie jeder andere Thüringer auch, unabhängig davon, zu welcher Weltanschauung der einzelne sich bekennt. Nicht jedem Zeitgenossen scheint das heute selbstverständlich, wie antisemitische Vorurteile und sogar Gewalt zeigen.

Die Landesregierung hat darum die von der EKM und dem Bistum Erfurt mit Unterstützung der Jüdischen Landesgemeinde vorgetragene Idee eines Themenjahres „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ aufgegriffen. Ab Oktober 2020 – der Beginn des Themenjahres orientiert sich am jüdischen Neujahrfest – werden alle bereits in Thüringen vorhandenen Festivals und Veranstaltungen mit Bezug zum Judentum im Themenjahr gebündelt.

Außerdem sind Kulturschaffende, Universitäten und Bildungsträger eingeladen, eigene Veranstaltungen zum Thema zu entwickeln und in das Jahr einzubringen. Die Vorbereitungen haben bereits begonnen. Auch die beiden Kirchen und die Jüdische Landesgemeinde werden sich beteiligen. Sie begleiten das Schreiben der Tora mit darauf abgestimmten Veranstaltungen und bereichern so das Themenjahr.

Stichwort „Zeremonie des Schreibens des ersten / des letzten Buchstabens“:

Erhält eine jüdische Gemeinde in Deutschland eine neue Tora-Rolle, stammt diese in der Regel aus Israel, wo sie unter Einhaltung vielfältiger ritueller Vorschriften von einem ausgebildeten Schreiber, dem Sofer, angefertigt wird. Mindestens aber der letzte Buchstabe wird in der Zeremonie des Schreibens des letzten Buchstabens in der Synagogengemeinde, die die Tora-Rolle enthält, geschrieben. Damit kommt die innige Beziehung der Gläubigen mit ihrer Tora zum Ausdruck. In Deutschland finden diese Zeremonien nicht sehr häufig statt. Noch seltener gibt es Zeremonien des Schreibens des ersten Buchstabens, so wie es jetzt in Erfurt geschieht. Der Thüringer Landesrabbiner Alexander Nachama kann sich persönlich an keine einzige Zeremonie erinnern, die hierzulande dem ersten Buchstaben einer neuen Tora-Rolle gewidmet war. Auch dies macht die Zeremonie am 23. Oktober zu einem besonderen Ereignis, zumal die Tora-Rolle nicht wie gewöhnlich in Israel entsteht, sondern komplett in Deutschland geschrieben wird.

Nach jüdischem Verständnis handelt es sich bei dieser Zeremonie um keinen Gottesdienst, auch unterliegt der Ablauf keiner festgelegten Ordnung. Wegen der herausragenden Bedeutung der Tora kommt der Zeremonie aber durchaus Gewicht zu und ist Grund zur Feier.

Die Worte der Tora werden alle vom Sofer geschrieben. Das erste Wort der Tora, von rechts nach links zu schreiben und zu lesen, lautet: בראשית – bereschit – Im Anfang (…schuf G´tt Himmel und Erde). Der erste Buchstabe ב ist ein B(eth). Ursprünglich bestand das Hebräische nur aus Konsonanten. Die später von Schriftgelehrten hinzugefügten Vokalzeichen in Form von Punkten (z.B. bereschit: בְּרֵאשִׁית), bleiben vom Sofer unberücksichtigt.

Gemeindemitglieder können die Tora mitschreiben, indem sie ihre Hand auf den schreibenden Arm des Sofers legen. Damit kommen sie auch dem religiösen Gebot (Mitzwa) nach, einmal im Leben die Tora zu schreiben. In Erfurt werden auch die Bischöfe der Kirchen, die die Tora-Rolle schenken, am Mitschreiben beteiligt.

Stichwort „Tora“:

Das hebräische Wort Tora bedeutet Lehre, Weisung und Gesetz und bezeichnet die ersten fünf Bücher der hebräischen Bibel. Den gläubigen Juden gilt die Tora als Richtschnur Gottes für gelingendes Leben und darum als wichtigster Teil der Bibel. Die Tora zu leben bedeutet Freude, nicht Last. Nach der Tora, der auch im Synagogengottesdienst die größte Bedeutung bei den Bibellesungen zukommt, gehören die Neviim, die Propheten, und die Ketuvim, die Schriften, zur hebräischen Bibel. Die Anfangsbuchstaben der drei Bibelteile ergeben das Wort für die gesamte hebräische Bibel: TaNaKh. Es ist aber auch üblich, die Gesamtbibel mit Tora zu bezeichnen.
Der Tanakh gehört als Altes Testament zur Heiligen Schrift der Christen, die auch bei ihnen Bibel heißt und aus den Büchern des Alten und Neuen Testamentes besteht. Das Attribut „alt“ ist dabei nicht als „vergangen“ oder „überholt“ zu verstehen, sondern im Sinne von „altehrwürdig“ und unterstreicht den Rang auch des Alten Testamentes als Offenbarung Gottes und unverzichtbaren Bestandteil der christlichen Bibel.

Stichwort „Tora-Rolle“:

Die Tora-Rolle enthält den handgeschriebenen Text der Tora. Sie besteht aus einer langen Bahn von Pergamentseiten, die aneinandergenäht und auf zwei Stäben aufgerollt sind. In den Synagogen-Gottesdiensten wird aus ihr vorgelesen. Außerhalb der Gottesdienste befindet sie sich im Tora-Schrein der Synagoge. Zur Tora-Rolle gehören Schmuckelemente wie Wimpel, Mantel, Schild und Krone.
Mit dem Schreiben einer Tora-Rolle wird ein eigens ausgebildeter Schreiber, der Sofer, beauftragt. Das Pergament muss von Hand aus der Haut von reinen Tieren wie Rind, Ziege oder Reh gefertigt sein. Die Tinte stellt der Sofer meist selbst her, wobei keine Metallzusätze zum Einsatz kommen dürfen. Das Schreibwerkzeug ist ein Vogelkiel von Gans oder Truthahn.

Der Text der Tora umfasst 304.805 Buchstaben und darf keinerlei Fehler enthalten, weil das rituelle Unreinheit bedeutete und die Tora-Rolle unbrauchbar machen würde. Der Sofer kopiert daher Buchstabe für Buchstabe von einer Vorlage (und schreibt nicht aus dem Gedächtnis), wobei es für jeden Buchstaben eine exakt vorgegebene Schreibweise gibt. Ornamente und anderer Zierrat, die die Lesbarkeit beeinträchtigen oder gar zu Lesefehlern führen können, sind nicht erlaubt.

Aufgrund des Materials und der sorgfältigen Herstellung können Tora-Rollen Jahrhunderte alt werden. Sind sie durch Abnutzung und Gebrauch unbrauchbar geworden, dürfen sie nicht einfach entsorgt werden. Solche Tora-Rollen werden in einer Geniza, einem vermauerten Hohlraum, deponiert oder auf einem jüdischen Friedhof bestattet. Der Grund für diese Praxis ist der in der Tora-Rolle geschriebene Gottesname, den Juden aus Ehrfurcht nicht auszusprechen wagen.

RÜCKFRAGEN

Peter Weidemann, 0361-6572216


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