07.11.2020
Altbischof Kähler sieht großen Forschungsbedarf zur Kirchengeschichte

Erfurt (epd). Thüringens Altbischof Christoph Kähler hat sich für die bessere Erforschung der Geschichte der evangelischen Landeskirchen ausgesprochen. 

So gebe es wohl Überblicke und Detailstudien zur sogenannten Entnazifizierung, aber kaum systematische Darstellungen der Verfahren und ihrer Ergebnisse, sagte der Theologe dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Erfurt. Erst eine aus den Quellen gearbeitete Gesamtschau oder mehrere gleichartige Untersuchungen böten die Grundlage für den kritischen Vergleich der sehr verschiedenen deutschen Landeskirchen, sagte er anlässlich der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der evangelischen Kirche in Thüringen an diesem Sonntag.

Nachholbedarf sieht Kähler vor allem für die braune Diktatur in Deutschland. Aber auch für die DDR-Zeit sieht der Theologe, der 2001 bis 2008 als letzter Landesbischof die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen anführte, weiterhin Forschungsbedarf. Als Beispiel nannte er das Agieren der Thüringer Kirchenleitungen. "Diese haben zeitweise die Nähe zu den diktatorisch Regierenden ohne die notwendige Abstimmung mit den anderen sieben Kirchenleitungen gesucht", sagt er. Das habe aber in Gemeinden und in der Landessynode eine heftige Opposition hervorgerufen, die als Bewegung in der Tradition der Bekennenden Kirche stehe und bis heute als Lutherische Bekenntnisgemeinschaft kirchliches Leben im Land präge.

100 Jahre nach Gründung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen warnte er vor Pauschalurteilen. Der Titel einer aktuellen Tagung der Evangelischen Akademie "Erst braun, dann rot?" fasse ein allgemeines Vorurteil prägnant zusammen, das aber der höchst verwickelten Geschichte nicht gerecht werde. "Dass die Kirchenleitung braun war, bedeutet ja nicht, dass alle Gemeindeglieder und die ganze Pfarrerschaft fanatische Nationalsozialisten waren", erklärte er. Es habe hier - wie in anderen Landeskirchen - Täter, Opfer und Gegner der Nazis gegeben.

Zu den Merkpunkten der Kirchengeschichte in der DDR gehört aus Kähler Sicht, dass die Alleingänge der Thüringer ohne Absprache mit den anderen Landeskirchen nach der Wahl von Werner Leich 1978 zum Landesbischof beendet wurden. Leich sei es auch gewesen, der die missverständliche Formel von der "Kirche im Sozialismus" 1988 aufkündigte.

Am 15. November 1920 hatten leitende Geistliche der Herzogs- und Fürstentümer eine Organisation des Kirchenwesens in Thüringen unter Ausschluss der preußischen Gebiete - zum Beispiel Erfurt - beschlossen. 1948 erhielt die Landeskirche eine neue Verfassung und nannte sich "Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen". 2009 fusionierte sie mit der Kirchenprovinz Sachsen zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM).

100 Jahre Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen | Altbischof Christoph Kähler: "Ein pauschales Urteil wäre ziemlich ungerecht"

epd-Gespräch: Dirk Löhr

Erfurt (epd). Am Sonntag (8. November) feiert die evangelische Kirche ihr 100-jähriges Bestehen in Thüringen. Altbischof Christoph Kähler hat sich zu diesem Anlass für eine Erforschung der "Entnazifizierung" in den evangelischen Landeskirchen ausgesprochen. Es gebe Überblicke und Detailstudien, aber kaum systematische Darstellungen der Verfahren und ihrer Ergebnisse, sagte der Theologe dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Erfurt. Auch für die DDR-Zeit bestehe Forschungsbedarf.

epd: Die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen fallen an diesem Wochenende eher verhalten aus. Liegt das nur an der Corona-Epidemie?

Kähler: Natürlich nicht, denn diese Kirche hat sich vor elf Jahren mit der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, der EKM, zusammengeschlossen. Insofern kann dieses Jubiläum keine Geburtstagsfeier für eine bestehende Institution werden, sondern bietet Anlass zur dankbaren und kritischen Rückschau. Es bleibt die Frage: Was ist unser christlicher Auftrag und was unser spezifisches kulturelles Erbe, das wir in und für Thüringen bewahren wollen?

epd: Die Gründung der Landeskirche war die direkte Antwort auf die Abdankung der Herzöge und Fürsten im Land. Übernommen wurde auch deren konservatives Personal.

Kähler: Konservativ müsste man nach dem Ersten Weltkrieg alle großen Kirchen, ihre Gemeinden und ihre Pfarrerschaft nennen. Doch ein pauschales Urteil über die Thüringer Verantwortlichen und ihre zum Teil sehr liberale, zum Teil streng lutherische Theologie wäre ziemlich ungerecht. Das historisch Interessante ist in Thüringen, dass in der 1920 gegründeten Landeskirche auch religiöse Sozialisten wie Emil Fuchs und Erich Hertzsch arbeiteten und sogar in der Synode vertreten waren, was in ganz Deutschland nur noch in Baden und Württemberg der Fall war. Das Spektrum der theologischen und politischen Strömungen war in Thüringen extrem weit gespannt.

epd: Eine Tagung der Evangelischen Akademie zum Jubiläum steht unter dem provokanten Titel "Erst braun, dann rot?". Passt das Motto?

Kähler: Die Überschrift fasst ein allgemeines Vorurteil prägnant zusammen, das aber der höchst verwickelten Geschichte nicht gerecht wird. Dass die Kirchenleitung braun war, bedeutet nicht, dass alle Gemeindeglieder und die ganze Pfarrerschaft fanatische Nationalsozialisten waren. Es gab hier - wie in anderen Landeskirchen - Täter, Opfer und Gegner der Nazis. Zu den Merkpunkten der Thüringer Kirchengeschichte in der DDR gehört, dass die Alleingänge der Thüringer gegenüber dem Staat ohne Absprache mit den anderen Landeskirchen nach der Wahl von Werner Leich zum Landesbischof beendet wurden. Das damit erworbene Vertrauen in die Thüringer zeigte sich etwa in Leichs Wahl zum Vorsitzenden der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen. Er war es im Übrigen auch, der die missverständliche Formel von der "Kirche im Sozialismus" 1988 aufkündigte, was die SED als faktischen Angriff auf die Existenzberechtigung des "ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden" wertete. Die Thüringische Landeskirche hat in beiden deutschen Diktaturen Entscheidungen gefällt und Äußerungen veröffentlicht, die theologisch, menschlich und politisch unverantwortlich waren. Das kann und darf nicht verleugnet werden. Doch es hat in beiden Perioden Vertreterinnen und Vertreter gegeben, deren Dienst in den Gemeinden bis heute Hochachtung abnötigt.

epd: Warum wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die innerkirchliche "Entnazifizierung" in Thüringen so halbherzig angegangen?

Kähler: Eine Gesamtdarstellung der "Entnazifizierung" für die einzelnen Landeskirchen wie für die Evangelische Kirche in Deutschland fehlt meines Wissens bis heute. Es gibt wohl Überblicke und Detailstudien, aber kaum systematische Darstellungen der Entnazifizierungsverfahren und ihrer Ergebnisse. Es ist zu hoffen, dass diese Lücke durch die künftige Forschung geschlossen wird. Für Thüringen wurde eine erste gründlichere Studie für diesen Komplex von Walter Weispfenning vorgelegt. Doch erst eine aus den Quellen gearbeitete vergleichende Gesamtschau oder mehrere gleichartige Untersuchungen böten die Grundlage für kritische Vergleiche der sehr verschiedenen deutschen Landeskirchen. Das gilt vor allem für die braune Diktatur in Deutschland. Aber auch für die Kooperation und die Konfrontation mit dem DDR-Staat besteht weiter Forschungsbedarf - auch über das Verhalten der Thüringer Kirchenleitungen. Diese haben zeitweise die Nähe zu den diktatorisch Regierenden ohne die notwendige Abstimmung mit den anderen sieben Kirchenleitungen gesucht. Das hat aber in Gemeinden und in der Landessynode eine heftige Opposition hervorgerufen, die als Bewegung in der Tradition der Bekennenden Kirche steht und bis heute als Lutherische Bekenntnisgemeinschaft kirchliches Leben in Thüringen prägt.

epd: Ein Versuch der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte war das Bußwort der EKM 2017, das aber kaum Wirkung entfaltete. Woran lag das?

Kähler: Das Bußwort bezieht sich unterschiedslos auf die Geschichte von zwei unterschiedlichen Landeskirchen, der Kirchenprovinz Sachsen und der Thüringer Kirche. Dass es meines Wissens keine wirkliche Resonanz hervorrief, hat für mich zwei Gründe. Zum einen ist es Ergebnis einer Arbeitsgruppe, das die Kirchenleitung angenommen hat, ohne dass die Landessynode oder einer ihrer Ausschüsse zuvor einbezogen waren. Dass der Synode dieses Wort lediglich mitgeteilt wurde, ist ein ausgesprochen seltsamer Vorgang. Denn die angesprochenen Themen hätten einer längeren Debatte und weiterer Expertise bedurft. Das war umso dringlicher, als eine jüngere Generation im Bußwort die "Sünden" ihrer Großeltern in Wir-Form beklagte, als ob sie die Täter wären. Dabei wurden auch höchst fragliche Behauptungen über die Handlungsmöglichkeiten der damals Verantwortlichen in Magdeburg und Eisenach aufgestellt. Diese Kritik habe ich den Verantwortlichen so früh wie möglich öffentlich vorgetragen.

epd: 2009 ging die Thüringer Landeskirche in der EKM auf. Wie viel ist von ihr in der neuen Landekirche übriggeblieben?

Kähler: Zunächst bleiben in allem Wandel die Gemeinden vor Ort in ihrer regionalen Umgebung, die schon innerhalb der bisherigen Landeskirche zum Teil noch volkskirchlich geprägt waren, zum Teil aber eine kleine Minderheit in extrem säkularisierten Gebieten darstellen. Sie brauchen nach wie vor den Dienst einer leistungsfähigen Landeskirche, die die Kirche vor Ort fördern, aber nicht ersetzen kann. An zwei Beispielen wird sich die Profilfrage entscheiden: Gelingt es den kleinen Gemeinden, ihre Dorfkirchen zu erhalten und zu nutzen? Und: Wie viel aus der reichen Thüringer Kirchenmusiktradition lässt sich weiter pflegen und lebendig erhalten? Vieles andere, was für Thüringen theologisch wie organisatorisch richtig und wichtig war, stellte keinen Unterschied zur Kirchenprovinz dar, sondern konnte gut in den gemeinsamen Regelungen aufgenommen werden.

epd: Noch immer gleicht die Karte der Gebiete der Landeskirchen einem Flickenteppich. Ist es nicht allerhöchste Zeit für moderne territoriale Strukturen?

Kähler: Weder in der EKD noch in irgendeiner Landeskirche gibt es einen Diktator, der "moderne territoriale Strukturen" mit seiner Macht durchsetzen kann. Solche Entscheidungen müssen aus den Gemeinden und Regionen heraus wachsen und von den Landessynoden beschlossen werden. Ich sehe mit großem Respekt, dass und wie sich die Nordkirche gebildet hat. Ebenso bin ich immer noch dankbar, dass wir unter großen Schwierigkeiten, mit kluger Beratung durch externe kirchliche Fachleute, aber ohne Zwang unseren Weg zur EKM gefunden haben. Einfach darf sich niemand einen solchen Vereinigungsprozess vorstellen, auch wenn es hinterher so aussieht.

Das Stichwort: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen

Erfurt (epd). Nach der Aufhebung der Monarchie im Jahr 1918 beschlossen am 15. November führende Kirchenmänner der ehemaligen Herzogs- und Fürstentümer auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Thüringen eine einheitliche Organisation des Kirchenwesens. Am 5. Dezember 1919 tagte die erste Synode und beschloss den Zusammenschluss von sieben eigenständigen Landeskirchen zur einheitlichen "Thüringer Evangelischen Kirche".

Dies geschah noch vor der Gründung des Landes Thüringen im Jahr 1920 und wie im Fall des Staatswesens auch unter Ausschluss der preußischen Gebiete (zum Beispiel Erfurt). Am 13. Februar 1920 wurde die Kirche formell errichtet, das Landeskirchenamt kam nach Eisenach. 1924 erhielt die neue Kirche eine Verfassung. 1934 schloss sich die Evangelisch-Lutherische Kirche des ehemaligen Fürstentums Reuß ältere Linie an, womit die Landeskirche ihren endgültigen Umfang erreichte.

Galt die Landeskirche in der Zeit der Weimarer Republik zunächst noch als tolerant - konservative Lutheraner, liberale Protestanten, religiöse Sozialisten und deutsche Christen konnten aktiv werden - ergab sich eine Mehrheit ihrer Mitglieder nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten der Gleichschaltung. Offen rassistische und antisemitische Kräfte wie die "Deutschen Christen" gewannen an Bedeutung. 1939 wurde in Eisenach das sogenannte "Entjudungsinstitut" gegründet.

1948 erhielt die Landeskirche eine neue Verfassung. Danach nannte sie sich "Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen". Die Kirche trat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei und war Gründungsmitglied der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Unter der Leitung von Moritz Mitzenheim (Landesbischof von 1945 bis 1972) wurde der "Thüringer Weg" etabliert. Die Alleingänge der Thüringer gegenüber dem Staat ohne Absprache mit den anderen Landeskirchen endeten 1978 mit der Amtsübernahme von Werner Leich (Landesbischof bis 1992), der auch ein Jahr vor der friedlichen Revolution die missverständliche Formel von der "Kirche im Sozialismus" aufkündigte.

Seit dem 1. Juli 2004 bildeten die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen die Föderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland (EKM), zum 1. Januar 2009 erfolgte die Kirchenfusion. Zur ersten Landesbischöfin wurde Ilse Junkermann gewählt. Die EKM hat heute knapp 700.000 Mitglieder. Geleitet wird sie von der Landessynode mit 80 Mitgliedern und vom 22-köpfigen Landeskirchenrat. Landesbischof (mit Sitz in Magdeburg) ist seit 2019 Friedrich Kramer.

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