19.11.2020
„Geld ermöglicht – weckt aber auch falsche Begehrlichkeiten!“ | Gespräch mit Thomas Schlegel, Projektleiter der Initiative „ Erprobungsräume" der EKM, über Erfahrungen mit dieser Art Kirche

Wie können neue Gemeindeformen erprobt werden? Unter dem Titel „Erprobungsräume“ fördert die EKM nach bestimmten Kriterien Initiativen, die Gemeinde im säkularen Raum baut.

Im Gespräch erläutert Projektleiter Thomas Schlegel die Erfahrungen mit dieser Art, Kirche zu erneuern.

Wie ist es zum Projekt „Erprobungsräume“ gekommen - welche Diskussionen und Überlegungen haben dazu geführt?

Schlegel: Der offizielle Startschuss fiel im  November 2014. Da hat die Landessynode der EKM beschlossen, „neue Gemeindeformen im säkularen Kontext zu erproben“. Zur Vorgeschichte des Beschlusses zählen die Fusion der beiden Gliedkirchen, ungeschminkte Bischofsberichte und der synodale Prozess „Als Gemeinde unterwegs“.

Hintergrundrauschen sind natürlich die Abbruchsprozesse, die sich gerade auf dem Land zeigen. Aber auch ermutigende Geschichten von Neuaufbrüchen. Das machte Lust, Neues zu wagen. Im Soziologensprech: Wenn soziale Praktiken dysfunktional werden, emergieren die Alternativen – in den Gemeinden, an ihren Rändern und daneben. Diese neuen Wege sollen geschützt und gefördert werden. Das ist die Idee der Erprobungsräume.

Übersehen werden sollte nicht: So ein Prozess braucht ein Momentum. Die richtigen Leute zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Das war und ist bei uns - noch - so.

Aktuell sind auf landeskirchlicher Ebene nur knapp zwei Personalstellen mit der Steuerung des Prozesses betraut. Aber Menschen gehen ehrenamtlich mit oder setzen sich in ihrem hauptamtlichen Dienst dafür ein. Anders wäre so was nicht zu machen. Es braucht die Leidenschaft und Freude. Sowieso versteht man Erprobungsräume erst, wenn man auf die weichen Faktoren schaut.

Nach welchen Kriterien werden Projekte unterstützt?

Schlegel: Wie die neuen Gemeindeformen auszusehen haben, gibt die Landeskirche nicht vor. Denn Subjekt des Erprobens sind die Christen vor Ort. Es soll Kirche entstehen. Deren Merkmale haben wir in sieben Kriterien formuliert. Sie sind der Tradition entnommen, etwa der „Confessio Augustana“ - oder sie verdanken sich aktuellen Erfordernissen, etwa der Notwendigkeit, alternative Finanzquellen zu erschließen oder der Mitarbeit von Ehrenamtlichen. 

So sind folgende Kriterien entstanden: In den Projekten soll die Gemeinde Jesu Christi neu entstehen. Sie sollen die volkskirchliche Logik an mindestens einer der folgenden Stellen überschreiten: Parochie, Hauptamt oder Kirchengebäude. Sie sollen die bislang Unerreichten mit dem Evangelium erreichen und zur Nachfolge einladen. Sie sollen sich dem Kontext anpassen und ihm dienen. Freiwillig Mitarbeitende sollen an verantwortlicher Stelle eingebunden sein. Zudem sollen sie alternative Finanzquellen erschließen. Und last but not least: In den Projekten soll gelebte Spiritualität einen zentralen Raum einnehmen.

Bisher war der Förderzeitraum auf fünf Jahre beschränkt. Das greift zu kurz, ist unsere Erfahrung. Die Protestantische Kirche in den Niederlanden, die ein ähnliches Programm aufgelegt hat, formulierte 2017: „More time needed than expected“. Zeit geben ist wichtig. Deswegen fördern wir ab 2021 für acht Jahre, allerdings degressiv und nur mit maximal 50 Prozent der Kosten.

Wie viele Projekte wurden bisher unterstützt?

Schlegel: Derzeit existieren 56 Erprobungsräume; davon 44 große und 12 kleine, die nur eine Einmalförderung erhalten. Der Umfang der finanziellen Förderung differiert sehr stark: Von zwei Stellenanteilen bis hin zu null Euro. Einige Erprobungsräume sagen uns: „Wir brauchen kein Geld. Uns ist es wichtiger, dazuzugehören.“

Je länger wir unterwegs sind, umso mehr empfinden wir die Ambivalenz des Geldes. Es lockt und ermöglicht – zweifellos. Aber es weckt auch falsche Begehrlichkeiten und stellt ruhig. Da kann es sogar Innovation verhindern. Es bleibt eine sensible Sache.

Wie wird neben Finanzen unterstützt?

Schlegel: Auch so eine Lernerfahrung: Begleitung, Vernetzung, Inspiration sind wichtiger als die finanzielle Förderung. Das haben wir unterschätzt. Die meisten Personalressourcen gehen dafür drauf. Wichtig sind Vertrauen und Nähe. Raum schaffen. Kontrolle dagegen verhindert. Innovation entsteht nicht durch direkte Förderung, sondern durch indirekte: zum Beispiel, indem man stimulierende Settings arrangiert. Unsere jährliche Werkstatt beispielsweise, Erkundungsfahrten oder Lerngemeinschaften.  

Wie sind die Erfahrungen?

Schlegel: Einiges ist ja schon angeklungen. Darüber hinaus fällt auf: Die Existenz von Erprobungsräumen irritiert das System. Manche grenzen sich ab, andere sind inspiriert. Diese Wechselwirkungen sind der zentrale Veränderungsstimulus. Denn sonst wären Erprobungsräume bloß innovative Inseln in einer ansonsten unverändert bleibenden Landeskirche. Diese Reibungen muss man wollen, weil sie ans Eingemachte gehen.

Wie kommen die die Projekte ins Laufen?

Schlegel: Neues zu beginnen und das Alte fortzuführen geht nicht. Das überfordert alle. Wir brauchen mutige Leitungsentscheidungen, was zu lassen ist. Und diese sollten weniger organisatorischen Erwägungen entspringen, sondern geistlich begründet sein.

Zudem: Was in Erprobungsräumen geschieht, ist gar nicht so anders und neu: Es geht um Gemeinschaft, Zuwendung, Verkündigung und Gebet. Aber die Dinge geschehen nicht, weil es in Dienstbeschreibung und Kalender steht. Kirchliche Aktivitäten wirken manchmal so, als müsste „der Betrieb aufrechterhalten“ werden. Dagegen strahlen Erprobungsräume durch Präsenz statt Programm aus, sie spiegeln Beziehung statt Angebot, Verlässlichkeit statt Aktionismus, Geschichten statt Gedanken und Unsicherheit statt Planung. Die Haltungen sind das Entscheidende, ob nun in bewährten oder neuen Formen.

Wer wird in den Erprobungsräumen erreicht?

Schlegel: In den Erprobungsräumen soll Evangelium über die Mitgliedschaftsgrenzen hinaus kommuniziert werden. Das ist ein wichtiges Ziel, aber auch ein hochgestecktes. In einem indifferenten Umfeld gilt es erst einmal Relevanz zu gewinnen. Wir sind oft so weit weg, was Sprache, kulturelle Vorlieben, Wertvorstellungen angeht. Sich einlassen, lieben und lernen sind hier wichtige Bausteine. Richtig spannend wird es da, wo man mit Unerreichten betet. Der gemeinsame Gottesdienst steht am Ende des Weges, nicht am Anfang. Und geübte Christen würden ihn gar nicht als solchen erkennen.

Wo kann man mehr erfahren?

Schlegel: Demnächst wird es eine Publikation über und von den Erprobungsräumen geben. Darin ist auch ein Bericht von den beiden Instituten zu finden, die den Prozess evaluieren. Dieser Blick von außen, vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover und dem Greifswalder Uni-„Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung“  ist uns sehr wichtig. 

Wie sieht die Zukunft des Projektes aus?

Schlegel: Ab 2021 gelten eine neue Ordnung und eine neue Förderrichtlinie. Darin sind die Erfahrungen der letzten Jahre eingeflossen. So wollen wir mehr Energie in die Rahmenbedingungen stecken, zum Beispiel Qualifizierungsmöglichkeiten und Ideenwerkstätten. Für die Initiativen wird es weniger Geld - dafür aber länger geben. Und die Dinge, die am Rand der Gemeinde wachsen, sollen stärker in das Programm integriert werden.

Kirchenrat Dr. Thomas Schlegel, geboren 1973 in Weimar, studierte Theologie und Philologie in Jena und Pietermaritzburg (Südafrika) Nach dem Vikariat in München und einer Pfarrtätigkeit im Thüringer Wald arbeitete er am IEEG der Universität Greifswald und war Referent am Zentrum für Mission in der Region der EKD. Derzeit leitet er das Referat Gemeinde im EKM-Kirchenamt in Erfurt und ist hier u.a. zuständig für den Prozess Erprobungsräume.

(Das Interview führte Uwe Birnstein)


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