29.09.2019
Predigt von Jacqueline Barraud-Volk zur Vorstellung der Kandidaten für das Regionalbischofsamt Meiningen-Suhl

Am 29. September 2019 in Meiningen
Predigt zu 1. Petrus 5b-11

Gnade sei mit euch und Friede von dem der da ist und der da war und der da kommt, Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
was wird aus der Kirche? So wird allerorten gefragt. In Nord und Süd, in West und Ost. Was wird, wenn der demographische Wandel die Kirchenlandschaft weiter verändert? Was wird, wenn die Zahlen der Kirchenmitglieder weiter sinken? Was wird, wenn die Last der Kirchengebäude uns finanziell noch mehr fordert und die Nachwuchssorgen in den kirchlichen Berufen zunehmen? Was wird aus Gemeinden, in denen der sonntägliche Kirchenbesuch an zwei Händen abzulesen ist? Dort, wo diese bedrängenden Fragen laut werden, legt sich gleichsam eine bleierne Schwere auf den gesamten Raum und man blickt in fragende Gesichter. Dazu gesellen sich dann - ganz menschlich - Begleiterscheinungen: Müdigkeit, Resignation, Streit um den richtigen Weg, geschäftiger Aktionismus, aber auch Verdrängung, Beschwichtigung, Schönreden oder Rückzug in ganz und gar private Frömmigkeit.

Die Frage nach der Zukunft der Kirche, der sorgenvolle Blick darauf und die Mechanismen, die dann einsetzen, das alles ist so alt wie das Christentum selbst. Von Anfang an war die Gemeinschaft, die sich im Namen Jesu versammelte, starken Veränderungen und transformativen, umgestaltenden Prozessen ausgesetzt. Der Predigttext für den heutigen Sonntag führt uns dies sehr eindrücklich vor Augen. Etwa 90 nach Christus - das Christentum ist noch ziemlich jung, hat sich aber bereits über Kleinasien und Nordafrika und bis nach Rom ausweitet - da macht sich eine sorgenvolle Stimmung breit. Die Christen werden zwar noch nicht verfolgt, wie später im 2. und 3. Jahrhundert, aber sie werden als Minderheit wahrgenommen und von ihrer Umgebung misstrauisch beäugt. Vielen Zeitgenossen im Römischen Reich erscheinen diese Christen ziemlich fremd, geradezu exotisch. Sie gelten als Eigenbrötler, schließlich nehmen sie an Festen zu Ehren der römischen Götter nicht teil und sie meiden jegliches Spektakel in den Arenen, weil sie das, was da geschieht, verständlicher Weise, grausam finden. Es wird geredet über die Christen, Vorurteile über sie werden en passant, ganz nebenbei gestreut und sogar als Fremdlinge werden sie beschimpft. Es gibt anonyme Anzeigen, Gerichtsverfahren, drakonische Strafen. Die Christen passen einfach nicht hinein in die „normale“ Gesellschaft, lassen sich nicht eingliedern, integrieren würde man heute sagen. „Was wird aus uns?“ so fragen sich damals die kleinen christlichen Gemeinschaften in der weiten Diaspora Kleinasiens des 1. Jahrhunderts? Sorgenvoll blicken sie in die Zukunft. Es sieht, nach menschlichem Ermessen, nicht gut aus. In dieser Situation erreicht sie ein Rundbrief, der die Autorität des Apostels Petrus, (der, auf den Jesus die Kirche bauen wollte), für sich reklamiert und in der Bibel als 1. Petrusbrief erscheint. Dort lesen wir im Predigttext für den heutigen Sonntag: (1.Petrus 5,5b-11)

„Alle aber miteinander bekleidet euch mit Demut; denn Gott widersteht den Hochmütigen,
aber den Demütigen gibt er Gnade. So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit. Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch. Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. Dem widersteht, fest im Glauben, und wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen. Der Gott aller Gnade aber, der euch berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus, der wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, aufrichten, stärken, kräftigen, gründen. Ihm sei die Macht in alle Ewigkeit! Amen.“

Liebe Gemeinde,
„Stoff für große Geschichten“, so betitelt der Modejournalist der „Zeit“ Tilman Prüfer (sein Urgroßvater war Missionar in Tansania) seine Beobachtungen zur neuen Herbst- und Winterkollektion 2019. Auf den Laufstegen der Welt, so schreibt er, scheint sich eine Veränderung anzubahnen. Ungewöhnlich viel Stoff kommt zum Einsatz. Da werden  Kleider präsentiert, die so überdimensioniert sind, mit kastenförmigen Schultern, überbreiten Ärmeln und wallenden Riesenkragen, dass man damit kaum durch eine Tür passt. Es scheint, als lasse die Mode plötzlich jede äußere Form zu und verabschiede sich von normierten ausgemergelten Einheitskörpern, die dem Diktat einer ganzen Schlankheitsindustrie zu gehorchen haben. Der Journalist findet die Veränderung gut und folgert: „Ein kleiner Schritt in eine neue Richtung könnte sein, dass es wieder Kleider gibt, die wirklich anziehen. Die Mode zu einer Möglichkeit machen, die Person, die man sein möchte, darzustellen.“

Der Petrusbrief setzt gedanklich hier an. So, als wolle er sagen: „Wenn ihr als Christen in der Welt bestehen wollt, dann wisst immer, wer ihr seid, was euch im Innern prägt und wie ihr anderen gegenüber erscheint.“ Und so fordert er zu Beginn unseres Predigttextes unumwunden auf: „Alle aber miteinander bekleidet euch mit Demut!“ Demut also als Stoff nicht nur für eine Saison, sondern als Stoff für die große menschliche Geschichte und damit als Stoff, der für ein ganzes Leben reicht.
Es kam nicht von ungefähr, dass die Getauften in der Alten Kirche ein neues Kleid anbekamen. Es sollte sichtbar werden, dass sie als Christen, bekleidet mit Christus und seiner Art zu leben und zu glauben, den neuen Menschen, mit der Taufe, geradezu anziehen: Bedacht auf Nächstenliebe, achtsamen Umgang miteinander, Menschlichkeit, freundliche Worte, im Respekt und vor allem im Dienst füreinander und für andere. Das alles steckt ursprünglich in diesem, für heutige Ohren etwas sperrigen Wort, Demut.

In unseren Zeiten meinen ja manche Menschlichkeit sei ein Makel und es müsse immer gemein zugehen, oder gejagt und gehetzt werden, da ist es gut, dass wir in der Nachfolge Jesu den Mut zur Demut und die Orientierung nicht verlieren, sondern das Miteinander, die Solidarität, den einzelnen Menschen und die Sorge um ihn groß machen und das leben. Niemand soll auf der Strecke bleiben! Dieser Dienst geschieht bis heute an unzähligen Orten der Welt.

Und im wahrsten Sinne des Wortes bei der Bahnhofsmission, die vor 125 Jahren gegründet wurde und etwa am Erfurter Bahnhof weiter etabliert wird, sowie nun auch ein festes Gebäude erhalten soll. Bekleidet mit ihren blauen Westen und dem Emblem der Bahnhofsmission sagen die meist ehrenamtlich Mitarbeitenden: "Wir wollen aus dem christlichen Gedanken der Nächstenliebe heraus für die Menschen da sein.“ Ob bei der Begleitung von älteren Menschen von einem Gleis zum Nächsten, ob bei der Vermittlung eines Schlafplatzes für Obdachlose oder deeskalierend, weil zwei gestrandete Drogenabhängige vor dem Bahnhof aneinandergeraten sind: Sie sind einfach da, lassen sich ein auf das, was die unterschiedlichsten Menschen mitbringen an Geschichten, an Nöten und Sorgen. Seit 125 Jahren sind sie gesellschaftlicher Seismograph am Puls der Zeit. Ursprünglich für Dienstmägde gegründet, damit diese, wenn sie in die Stadt kommen, nicht unter die Räder geraten, war die Bahnhofsmission im Lauf der Geschichte für viele da: für Soldaten und Verwundete im 1.Weltkrieg, für viele Flüchtlinge aus dem deutschen Osten im 2. Weltkrieg, später für sogenannte Gastarbeiter, dann für Spätaussiedler und natürlich auch für die vielen Flüchtlinge aus Syrien. Die Mitarbeitenden sind sichtbar, spürbar Kirche am Bahnhof, im Dienst für andere.

Der 1. Petrusbrief ist, wie die Bibel überhaupt, sehr realistisch. Sich mit Christus, mit Demut und Menschlichkeit bekleiden, das ist das eine. Aber die Welt, die so gut geschaffen wurde von Gott - wir haben die Paradiesgeschichte als Lesung gehört - sie ist nicht idealistisch zu sehen. Damals nicht und heute nicht. Von Anfang an schwingt der Widersacher, die Bosheit, der brüllende Löwe, das Menschenverachtende, der Egoismus, der Machtwille oder wie auch immer man es nennen will, mit. Und wir Christen, wir gehören wie alle Menschen zur Welt und sind wahrlich nicht davor gefeit, solchem menschenverachtenden Irrtum auf den Leim zu gehen. Deshalb ermahnt der Rundbrief: „Seid nüchtern, wacht, widersteht im Glauben.“ Christsein, Kirchesein ist anspruchsvoll. Wir nehmen nicht alles hin, wir schauen nicht nur zu. Wir diskutieren, wir fragen, wir packen an, wir machen uns Gedanken und tun den Mund auf für andere.

Heute wie vor 30 Jahren als in dieser Kirche, hier in Meiningen, auf die schon jahrelangen praktizierten Friedensgebete die großen Dienstagsdemonstrationen folgten (woanders waren es Montagsdemonstrationen), die die friedliche Wende einleiteten. Was ist wohl alles in dieser Kirche gebetet, besprochen, gehofft und auch befürchtet worden? Man wusste nicht im Voraus, wie das ausgehen würde. Es ist gut und wichtig sich daran zu erinnern, dass der Geist, in dem das damals geschah, getragen hat. Dieser nüchterne Widerstand ohne Gewalt, der Mauern zu Fall gebracht hat. Daran können wir als Kirche und als Gesellschaft lernen. Und daran wird auch mit zahlreichen bundesweiten Veranstaltungen in diesem Herbst erinnert werden.

Der heutige 29. September ist auch Michaelistag. Seit dem 5. Jahrhundert ist er Gedenktag des Erzengels Michael, der erste unter allen Engeln, der im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung, in einem finalen Kampf den Drachen der Bosheit, den Widersacher Gottes besiegt (Offenbarung 12). Nicht nur im Hamburger Michel oder auf dem Mont Saint Michel in der Normandie kann man diese biblische Ikone des Widerstands sehen. Auch das zentrale Glasfenster hier in der Meininger Stadtkirche zeigt genau diese Szene. 1961, im Jahr des Mauerbaus vom Künstler Gerhard Olbrich entworfen, wurde es hier in die hohen gotischen Fenster eingesetzt. Im Glasfenster, genau hinter dem Altar, sieht man einen mehrköpfigen Drachen am Boden liegen, der sich über die beiden Fenster erstreckt. Links darüber eine Gestalt mit überbordenden Flügeln, orangefarben, so wie bei einem überdimensionierten Kleid. Mit dem Oberkörper nach unten und dem Schwert in der Hand, saust sozusagen dieser Michelsengel auf den Drachen zu. Noch regt sich der Drache, die Köpfe sind zum Beißen bereit, aber es ist klar, wie der Kampf enden wird. Und es ist klar, dass Gottes Macht größer ist als alles, was beängstigt und bedroht. Michaelis als Gedenktag ruft nun nicht etwa auf, einen gewaltsamen Kampf gegen die Welt zu beginnen, mit Schwertern und Blutvergießen. Davon gibt es, Gott sei es geklagt, übermäßig und unnötig, genug in der Welt. Michaelis und diese Darstellung ruft der versammelten Gemeinde vielmehr ins Gedächtnis, dass der scheinbar ewige Kampf zwischen Gut und Böse schon längst im Himmel entschieden ist. Deshalb ist nüchterner Widerstand mit Worten, im Gebet, im Vertrauen auf Gott und Tun des Gerechten, niemals umsonst, sondern wirkt, verändert die Welt und bringt Dinge ins Lot. Dazu gehört auch der Widerstand gegen vermeintliche Weltuntergangsstimmung in der Kirche selbst. Diese Stimmung kann solch einen Sog entwickeln, dass wir Christen daraufhin wirklich langweilig, müde und wie abgeknickte Blümchen im Sturm, dastehen. Dabei wachsen aus Brachland und hartem Beton die überraschendsten Pflanzen.

Ich denke dabei an die erste Herbergskirche im Thüringer Wald in Neustadt am Rennsteig. Ich habe sie leider noch nicht gesehen, aber was ich gelesen und an Bildern gesehen habe, hat mich angerührt. Die dortige Michaeliskirche, auch mit einem Glasfenster des Heiligen Michael im Chorraum, ist seit 2018 Herberge für Wanderer, Touristen und Neugierige. Die Idee entstand durch eine Gruppe junger Architektinnen und Architekten in Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde vor Ort. Man kann nun wirklich in dieser Kirche, in der sonntags Gottesdienst gefeiert wird, übernachten. Natürlich war das ein langer Weg bis dahin, auch mit vielen Diskussionen und man ist immer noch in der Testphase. Aber die Menschen kommen. Manche suchen hier einfach Ruhe, andere die Begegnung mit Gott, weil sie etwas auf dem Herzen haben. Alle gehen erfüllt mit einer neuen Erfahrung. Auf einer weltweiten Plattform für private Unterkünfte schreibt jemand über die Herbergskirche: „Eine wunderbare Erfahrung, an einem Ort voller Stille und Abgeschiedenheit. Der Empfang war so herzlich, als würde man zurückkommen und nicht zum ersten Mal da sein. Die (evangelische) Kirche hat hier Menschen, die christliche Werte in all Ihrem Tun vermitteln, so dass auch heutzutage Religion noch oder wieder gelebt werden kann. Ein Kleinod, welches neben dem wunderbaren Gebäude durch all die Menschen erstrahlt, die dieses Erlebnis möglich machen.“ Da blüht etwas auf. Menschen entdecken Wertvolles für ihr Leben.

Im Petrusbrief erweist sich christliche Existenz sozusagen zwischen Demut und Widerstand. Das ist gar nicht so einfach zusammenzubringen. Aber wie eine Überschrift, wie ein tragendes Band, wie ein wärmender Schal zwischen diesen beiden Polen, wirft der Brief in der Mitte zwischen diesen beiden den Blick auf Gott selbst: „Alle eure Sorge werft auf Gott; denn er sorgt für euch.“ Von diesem Vertrauen auf den sorgenden Gott lebt die Kirche, leben wir. Freilich: die Sorgen sind stark und bleiben es, in der Kirche und in jedem Leben. Aber Gott ist stärker. Und in jedem Gottesdienst gibt er uns Herberge auf Zeit, um uns aufrichten, zu stärken, zu kräftigen, zu gründen, uns wieder ins Lot zu bringen. Mit Gebeten, mit Liedern, mit Worten und Musik, mit Erfahrungen, mit der Hoffnung: Gott bleibt am Werk. Deshalb bleibt der Gottesdienst, in welcher Form und aus welchem Anlass auch immer er gefeiert wird - da bewegt sich gerade viel in den Kirchen und überall wird Neues erprobt-  der Gottesdienst bleibt die Kraftquelle des Glaubens.

Und dann heißt es rausgehen, sich in den Wind stellen, die Welt in aller Demut und nüchternem Widerstand lichtvoll verändern sowie im Vertrauen auf Gott und in Gemeinschaft den Weg gehen, der ansteht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Verstehen und Begreifen bewahre eure Herzen und Sinne, eure Demut, euren Widerstand, euer Leben in Christus. Amen.


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