08.05.2019
Predigt von Regionalbischöfin Pfrn. Dr. Friederike Spengler zu 74 Jahre Ende des 2. Weltkriegs in Europa am 8. Mai 2019

"Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem."

Lesung aus Röm 12,17-21

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.

Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben  "Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr."

Vielmehr, "wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln"

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

 

Predigt

Liebe Schwestern und Brüder, Gott sei Dank, wir leben im Frieden! Viele von uns haben selbst nie erfahren müssen, was Krieg bedeutet. Die im Ruhestand Stehenden erinnern sich – jedenfalls teilweise – durchaus an diese Zeit. So wie die Generation unsere Eltern und Großeltern, bereits mit dem Wort „Krieg“ ganz anderes verbinden und deren Erinnerungen mit dem heutigen Datum in besonderem Maße wachgerufen werden. Erlebnisse, die Menschen mit den Tagen im Frühjahr 1945 im Allgemeinen und mit dem 8.Mai im Besonderen verbinden, sind so individuell und persönlich,  dass man gar nicht erst versuchen sollte, sie zu verallgemeinern.

So persönlich wie jene, die ich heute mit Ihnen teile: Auf der Fahrt zu meinem Ostergottesdienst im Kirchenkreis Schleiz, saß mein Vater, 83 Jahr alt, mit mir im Auto. In einem der vielen kleinen Ortschaften an der Landstraße fuhren wir an einem überdimensional großen Kriegerdenkmal vorbei. Mein Vater war bis dahin intensiv mit mir im Gespräch gewesen, jetzt wurde er ganz still. Dann begann er zu erzählen, ein kleines Stück seiner Geschichte, wie ich sie vorher noch nie von ihm gehört hatte: Es war in Thüringen Ende April/Anfang Mai 1945. Die Truppen hatten bis in hörbare Weite gekämpft, dann waren Tage des Wartens und Bangens vergangen und die russischen Soldaten kamen heran. Die junge Pfarrfrau packte den Handwagen voll mit dem Nötigsten für sich und die beiden Söhne, meinen Vater und seinen Bruder. Dann traf sie sich mit anderen Frauen und deren Kindern, mit den Alten und Kriegsversehrten im Dorf zur gemeinsamen Flucht. Ein Stock mit einem weißen Fetzen Stoff steckte an den Gefährten, die Kinder zogen, ihre Mütter trugen Säuglinge auf dem Arm oder stützten die Alten. Man kam nicht weit, Fliegeralarm, zum eigenen Schutz auf in den Wald. Als die Nacht hereinbrach zogen sie weiter, lagerten vor dem nächsten Dorf unter Feldgehölzen und suchten, als die Sonne aufging, die Gehöfte auf. Man bat um ein Dach über dem Kopf und bot dafür einen Ring oder ein Kleidungsstück an. „Als meine Mutter dann auf dem vierten oder fünften Hof immer noch keine Bleibe für uns ausgehandelt hatte“, erzählte mein Vater, „ging sie ins dortige Pfarrhaus. Währenddessen standen mein Bruder und ich beim Handwagen. Da kam ein junger Mann in deutscher Uniform die Straße herunter, sah auf unsere Fahne und schrie uns an: Wenn ihr nicht sofort die weiße Fahne von eurem Wagen nehmt, dann erschieße ich euch! Wir hier im Ort, wir haben uns noch nicht ergeben!“ Wir waren starr vor Schreck, als unsere Mutter aus dem Pfarrhof trat. Dann zogen wir den Handwagen bis zur nächsten Kurve und steckten die weiße Fahne wieder auf. „Und? Hast Du für uns ein Zimmer, wo wir bleiben können?“ „Ja“, sagte sie, „in der alten Schenke, dort dürfen alle Frauen und Kinder ein paar Tage die Nacht verbringen.“ Die kommenden Stunden blieb alles ruhig. „Das Land schien die Luft anzuhalten“, erinnert sich mein Vater. „Es war gespenstisch still. Wir hatten keinerlei Nachrichten, wo die Front jetzt verlief. Wie lange es noch dauern würde, bis die russischen Truppen hier wären? Unter den Frauen flüsterte man sich zu, es wäre auf jeden Fall sicherer, die Zimmer so zu teilen, dass jede Frau nur ein Bett habe, in dem sie mit den Kindern schliefe. Man sagte, wenn die Kinder dabei wären, seien die Soldaten nicht so brutal…“ In meinem Auto war es wieder ganz still. Mein Vater schwieg eine Weile. „Weißt du“, setzte er unvermittelt erneut ein, „die Angst war das Schrecklichste. Ich höre manchmal das Geräusch noch im Traum, wie die Türe zu der alten Schänke aufgebrochen wird. Wir waren mit einem Schlag hellwach. „Bitte, flüsterte meine Mutter, rückt jetzt mit Euren Rücken so eng zusammen, dass ich kaum dazwischen zu sehen bin.` Wir taten dies in dem Augenblick, als Stiefelschritte die Treppen heraufkamen und der Schein von Taschenlampen bereits über die Wände huschte. Schon hörte ich eine Frau wimmern, als ein anderer Soldat das Licht seiner Lampe über unser Bett gleiten ließ. Ich traute mich kaum zu atmen, unsere Mutter war zwischen uns unter die Decke gerutscht. Ich presste vor Angst die Augen ganz fest zu, als könne das etwas ändern. Der Soldat mit der Taschenlampe blieb eine Weile so stehen, dann ging er weiter. Im Nachbarzimmer hörte ich, wie er die Frau im Bett überfiel, ihre Schreie werde ich nie vergessen.“ Mein Vater hing erneut seinen Gedanken nach, ich ließ die Stille geschehen. „Weißt du, Friederike, erst Jahre später habe ich darüber nachgedacht: Du weißt ja, dass mein Vater die Kriegszeit über Häftling im Außenlager eins KZ war. Aber wie viele anderen Väter und Brüder der Familien, die damals diese Nächte erlebten, waren im Krieg in Polen, Frankreich, Rumänien oder in Russland dabei. Wer machte sich Gedanken darüber, was diese den Frauen und Mädchen dort antaten? Krieg macht alle zu Verlierern, die Rede von Siegern ist eine Lüge.“

Bilder und Gedanken: Freude, Jubel, Dankbarkeit, Freiheit  -  Leid, Schmerz, Hass und Trauer: das alles liegt beim Erinnern an den 8. Mai 45 nahe beieinander. So nahe, dass es einem den Atem verschlägt, viel zu nahe nebeneinander, um es sortieren, geschweige denn, um es beurteilen zu können.

Und dann die nachfolgende Generation – die väterlosen Kinder, deren Mütter wie Arbeitstiere die deutsche Wirtschaft aufgebaut, das Familienleben am Laufen gehalten und nebenbei die alten Eltern gepflegt haben. Die Fragen blieben lautlos, unterdrückt, sich selbst und dem Gegenüber verboten. Wir als Enkelgeneration stellten sie: Was habt ihr gewusst? Was habt ihr getan? Wohin habt ihr gesehen, als man Häftlinge durch eure Stadt trieb, als man euren Nachbarn abholte, als die Frau des Landarztes sozial geächtet wurde, weil sie einen Juden geheiratet hatte?  Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt. Oder doch? Erzählt uns doch von Euch!

Und heute, 2019?, was ist aus dem Schwur geworden „Nie wieder Krieg! Jedem soll die Hand verfaulen, der jemals wieder eine Waffe in die Hand nimmt!“  Warum standen bereits wenige Jahre später Soldaten aus Hartgummi, Plastepanzer und Armeeflugzeuge in den meisten Kinderzimmern? Es ist wohl das Vorrecht der Jugend  so zu fragen und die Alten müssen sich diese Fragen gefallen lassen – das ist wie ein heimlicher Vertrag unter den Generationen, und auch wir sind nun bereits die Angefragten: Warum steht ihr nicht auf, wenn Deutschland erneut die Welt mit Waffen beliefert? Warum lasst ihr zu, dass für euren Lebensstil Menschen in anderen Gebieten dieser Erde kriegerischen Handlungen ausgeliefert sind? Ekelt es euch an, wenn erwachsene Männer neben euch im Zug auf ihren Tabletts Scharfschütze spielen? Was tun wir also mit diesem Tag, dem 8. Mai? Wie gehen wir um mit dem Wissen um die Geschichte und den Erinnerungen daran, mit dem großen Halleluja für das Geschenk des Friedens und mit den vielen geweinten und ungeweinten Tränen in einem Atemzug?

Danken, Gedenken, Weiter-Denken. Das ist für mich, liebe Brüder und Schwestern ein vorstellbarer Umgang mit diesem Tag. Danken will ich heute mit Euch: Gott die Ehre geben. Mein Dank gilt ihm und durch ihn hindurch den Menschen, die dem deutschen Wahnsinn in der Welt damals Einhalt geboten haben. Den Männern und Frauen, die der Gewalt ihre Zivilcourage entgegensetzten, den Frauen und Männern, die der Zerstörung ihre helfenden Hände entgegenstreckten, den Männern und Frauen, die dem Schrecken die Hoffnung entgegenhielten, den Frauen und Männern, die dem Gedröhn der Kanonen und Gewehre ihre Worte der Liebe und Menschenwürde entgegen stellten, den Soldaten, die ihre Aufgabe nicht im Rach-nehmen, sondern im Befreien sahen, den Männern und Frauen, die Verfolgte versteckt, Hungernde gespeist, Flüchtlinge beherbergt, Kinder aufgenommen, dem teuflischen Gedankengut der deutschen Christen widerstanden haben… Gott sei Dank gab es Sie – was wäre sonst aus uns geworden?

Gedenken will ich heute mit Euch: In Psalm 56 heißt es:

4 Wenn ich mich auch fürchte, so hoffe ich doch auf dich.

9 Zähle die Tage meiner Flucht, /

sammle meine Tränen in deinen Krug;

ohne Zweifel, du zählst sie.

„Tränen in deinen Krug“. Symbolisch für die geweinten und die ungeweinten Tränen bringe ich dieses Gefäß mit Wasser zum Altar. Mit jeder Prise Salz wird aus dem Wasser mehr und mehr Tränenwasser:

Tränen um die Verletzten, Vergewaltigten, Verstümmelten;

Tränen um die Verschleppten, Vertriebenen, Gefangenen, Gefolterten;

Tränen um die verängstigten Angehörigen, um die zurückgelassenen Kinder, um die verwitweten Frauen,

Tränen um die verlorenen Väter, Söhne, Brüder und Cousins, Freunde und Bekannte, Klassenkameraden und Nachbarn.

Tränen um Vermisste und Verschollene;

Tränen um Vereinsamte, für die um ihre Heimat, ihre Kindheit Gebrachten;

Tränen um die Verzweifelten und Hoffnungslosen;

Tränen um Menschen aller Ethnien, Religionen und Überzeugungen, die durch Deutschland zu Schaden kamen;

Tränen um das, was aus unserem Land geworden ist, als Synagogen, Geschäfte, und Getötete brannten und der Mensch des Menschen Wolf wurde;

Tränen um die von Hass, Stolz und Wahn Verblendeten;

Tränen der Freude und Erleichterung, dass auch in dieser Zeit Wunder geschahen

Tränen der Freude, dass der Krieg ein Ende hatte.

Tränen für alle und alles Ungenannte, was einem von uns heute nachgeht:…..(dann Tränengefäß auf den Altar: „Ja, Herr, sammle die Tränen in deinen Krug“, zurück zur Kanzel)

Weiterdenken mit ich mit Euch: Welches Erbe hinterlässt uns dieser Tag, welche Aufgaben stehen für uns an? In der Lesung, die wir vorhin gehört haben, sagt uns Paulus etwas davon, wie wir in dieser Welt leben können, damit Friede bleibe und werde.

Diese Sätze einst an die Gemeinde in Rom geschrieben, haben an Aktualität nichts verloren. Paulus hat es so verstanden: Der Samen für den Frieden liegt im Tun der Menschen untereinander. Keine Chance für die Haltung „Da können wir als Einzelne doch nichts machen“. Dass, was Paulus hier in seinen Anweisungen fürs tägliche Leben seiner Gemeinde ins Stammbuch schreibt, schreibt er mit der Autorität göttlichen Auftrags auch uns heute ins Stammbuch: „Vergilt nicht Böses mit Bösem. Sei auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Soweit es an dir liegt, habe mit allen Menschen Frieden. Räche dich nicht selbst. Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Du und ich, wir sind aufgefordert, den Frieden weiterzugeben. Du und ich, wir haben die Kraft aufzustehen gegen Unrecht. Du und ich, wir wollen einstehen für die, die schon wieder zu Sündenböcken der Gesellschaft gemacht werden. Du und ich, wir werden unseren Kindern und Enkeln den Frieden ausmalen, phantasievoll, bunt und schön, damit ihre Kriegsspiele keine Realität werden. Du und ich, wir wollen….

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Zu solchem ermutige uns Gott, der Vater des Friedens und der Gerechtigkeit. ER schenke uns Kraft und Mut – seinen Segen zu unserem Bemühen. Amen.


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