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07.06.2020
23. Psalm

Die alte Dame wird 90. Ihre Kinder haben sich eine Überraschung einfallen lassen.
Ein Schauspieler des renommierten heimischen Theaters wird nach dem Kaffee rezitieren.
Vor allem Goethe. Sie liebt Goethe.

Die Runde ist gespannt:

Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie durchaus studiert,
mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor.

Alle könnten Dr. Faustus mitsprechen; aber der Schauspieler beeindruckt durch seine einfühlsame Intonation.
Nach Goethe und Schiller und Rilke fragt er:
Haben Sie einen Lieblingstext, gnädige Frau?

Die Jubilarin zögert nur kurz:
Den 23. Psalm!

Der Künstler zögert seinerseits, überrascht; spricht aber textsicher:
Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln
Mit leiser Stimme spricht sie mit.

Der Schauspieler bricht ab; die alte Dame nun allein mit kräftiger Stimme:
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal
Fürchte ich kein Unglück
Denn Du bist bei mir..

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
Am Schluss schweigt die Runde, berührt, ergriffen, mit Tränen in den Augen. Der Schauspieler räuspert sich:

Gnädige Frau! Ich kenne zwar den Text, aber Sie…kennen den Hirten.

Angerührt grüßt aus Dessau
Joachim Liebig


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