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30.05.2022
Die Sicht der Dinge

Ein wunderbares Familientreffen liegt hinter mir.
Viele Geschichten von früher wurden da erzählt.
Und die zweite und dritte Generation hörte aufmerksam zu.
Mit großer Freude erzählte meiner Schwester über mich:
Kommt Renate aus der Schule und sagt: Hab ich ein Glück gehabt!
Unsere Mutter fragte nur: Na, wie groß war das Glück diesmal?
Meistens musste ich dann sagen: Ich habe keine vier geschrieben.
So richtig böse war meine Mutter nie.
Manchmal hat sie sicher auch über mich geschmunzelt.
Ich wollte nicht so gern mit der nackten Wahrheit herausrücken,
klang nicht so gut: Ich habe eine drei bekommen.
Der Satz mit dem Glück klang doch viel besser.
Und für mich war er wahr.
Wir sind streng erzogen worden, was das Einhalten der Gebote anging.
Die Wahrheit zu sagen, das war wichtig.
Ich wollte so nah an der Wahrheit wie möglich bleiben.
Die Wahrheit dem anderen so hinhalten wie einen Mantel, in den er hinein schlüpfen kann.

So beschrieb es Max Frisch.
Ich bin sehr dankbar, dass meine Mutter den Satz mit dem Glück lange toleriert hat.
Mir war ja klar, dass meine Mutter mich eigentlich zu mehr Fleiß anhalten musste.
Aber ich wollte ihr auch keinen Kummer machen mit meinen Noten.
Ein Abitur mit einer eins vor dem Komma habe ich doch hinbekommen.
Eben Glück gehabt!
Vor allem aber: mit solch einer Mutter!
Den Schulkindern hat die Geschichte sehr gefallen.
Und ich merke: clever sein, lohnt sich.
Aber die Wahrheit lohnt immer.

Pfarrerin Renate Höppner aus Magdeburg

 


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