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10.02.2023
Graseweg

Wir sind umgezogen. Mal wieder. Jetzt wohnen wir im Graseweg, wo das Gras über die Geschichte wächst. Oder auch nicht.

Im Jahre 1348 breitet sich die Pest in Mitteleuropa aus und macht um Halle an der Saale keinen Bogen. Noch schneller als die Krankheit verbreiten sich die schlimmen Nachrichten über sie, schon damals. Und so wissen alle, dass es die Pest sein muss, als sie in einem kleinen Eckhaus in der Nähe des halleschen Marktplatzes einen schweißgebadeten und von Beulen gezeichneten Mann finden.
Der Stadtrat handelt schnell und befielt in seiner Hilflosigkeit, die Gasse am oberen und unteren Ende einfach zuzumauern. Gesagt, getan. Macht hoch die Tür, die Mauern dick. Keiner kommt mehr rein und keiner raus. Und Halle bleibt von der ersten Pestwelle verschont.

Als sie nach zehn Jahren die Mauern abbrechen und sich wieder in die Gasse trauen, finden sie die Skelette der Eingemauerten – von Moos und Gras bedeckt wie überhaupt alles in der Pestgasse. Die heißt fortan nur noch: der Graseweg.

Ganz oft weiß ich nicht, was schöner ist: vergessen oder erinnern. Dass wir nach fast siebenhundert Jahren noch um die Geschichte des Grasewegs wissen, zeigt aber, dass nicht so einfach Gras über die Dinge wächst. Warum auch? Es ist doch unsere Geschichte. Mit allem, was dazugehört.

“Nicht im Vergessen, sondern im Sich-Erinnern besteht das Geheimnis der Erlösung”, sagt Rabbi Baal Shem Tov. Deshalb: Vergessen Sie nicht, wo Sie herkommen.

Conrad Krannich, Halle.


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