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20.09.2023
Hast Du ein Taschentuch?

Beim Aufräumen im Kleiderschrank fand ich kürzlich zwei fein zusammengefaltete, gebügelte Taschentücher meiner Mutter. Die liegen dort schon sicher mehr als zehn Jahre. Unbenutzt mit dem eingestickten Monogramm, das ich noch entziffern muss. Und wie plötzlich war ihre Stimme wieder in meinen Ohren. Ich sah sie hinterherrufen, wenn ich morgens schnell zum Hoftor lief, weil die Turmuhr schon anfing, die volle Stunde zu schlagen: Hans, mein Junge, hast du nichts vergessen? Hast du auch ein Taschentuch mit?

Ich fand das nervig.

Meist hatte ich ein Taschentuch in einer Tasche meiner graublauen Schuluniform. Das weiße, gefaltete Taschentuch war der Kontrast zu der hässlichen Uniform, die ich gar nicht mochte. Für andere war es mehr, als nur eine Frage.

Die Schriftstellerin Herta Müller hatte ihr Taschentuch bewusst vergessen, weil sie auf diese Frage ihrer Mutter wartete.

Bei ihrer Rede in Stockholm hat sie die erwähnt und als ihren persönlichen stillen Protest gegen die kommunistische Diktatur der 70-ger und 80-ger Jahre in Rumänien gedeutet. Die Frage ihrer Mutter „Hast du ein Taschentuch“ war für sie der Beweis, dass ihre Mutter sie behütet, denn in den späteren Stunden des Tages war sie dann auf sich allein gestellt. Das kann ich sehr gut nachfühlen, auch wenn ich selbst Gott sei Dank nicht so massiv bedrängt und verfolgt wurde wie die Nobelpreisträgerin aus dem Banat.

Wie ist das mit Ihnen, haben Sie ein Taschentuch dabei? Ich würde Ihnen eines leihen. Man weiß nie, was kommt.

Johann Schneider, evangelischer Regionalbischof aus Halle


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