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21.11.2021
Marie

Als junger Pfarrer lerne ich Marie kennen.
Da ist sie längst Großmutter.
„Im Sommer 1944 habe ich meinen Mann zuletzt gesehen,“ erzählt sie mir bei einem
Geburtstagsbesuch, „naja, und 45 kam dann unser Junge zur Welt“ fährt sie fort und ist dabei ein
wenig verschämt.
„Ihr Sohn hat seinen Vater nie kennengelernt?“ frage ich ganz betroffen zurück.
Marie schüttelt den Kopf und schweigt und eine Träne läuft über ihre Wange.
„Ach wissen Sie, Herr Pfarrer,“ sagt sie, „das ist alles schlimm genug; aber ich wüsste gern, wo mein
Mann beerdigt wurde. Ich weiß nur: Verschollen an der Ostfront.
Kein Grab! Das ist das Schlimmste.“
Ich merke einmal mehr: Trauer braucht einen Ort.
Am Ewigkeitssonntag sehe ich Marie mit einer Kerze in der Kirche.
Ein Licht für ihren Mann.
Viel später sitze ich wieder bei ihr.
Marie liegt im Sterben
„Ich freue mich! Jetzt sehe ich meinen Mann. Endlich!“ sagt sie mit schwacher Stimme.
Ihr Sohn hält ihre Hand.
„Du grüßt ihn von mir, nicht wahr?“
„Natürlich!“ und dabei lächelt Marie.
Und ihr Sohn auch.
Und die Trauer schmeckt auf einmal nach Zuversicht.
Und der Tod ist nur ein kleiner Schritt.
„Ich vermisse meine Mutter“, sagt Maries Sohn später im Trauergespräch.
„Aber traurig bin ich nicht.“

Diesen Trost wünsche ich uns zum Ewigkeitssonntag.
Aus Dessau grüßt
Joachim Liebig


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