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02.09.2023
Sich selbst verlieren

Vormittag im Pflegeheim. Ich will Frau Köber besuchen. Seit 3 Jahren wohnt sie
hier, sie ist dement
Ich kenne sie schon lange. Stolz, couragiert, um keine Antwort verlegen, durch und
durch Lehrerin. Und immer adrett gekleidet, die Lippen rot, auch mit Ende 70, bis sie
irgendwann begann, sich zunehmend selbst zu verlieren. Dann ging es zu Hause
nicht mehr allein.
Auf der Etage angekommen entdecke ich sie schon auf dem Gang. Sie läuft unruhig
hin und her, so unruhig, wie ihre Gedanken sind. Sie erkennt mich gerade nicht.
„Na, Frau Köber? Ich bin´s, die Pfarrerin, Frau Lang.“
Ihr Gesicht hellt sich auf. „Frau Lang!“ Und gleich darauf trübt sich ihr Blick und sie
beginnt zu weinen.
„Wie geht es Ihnen denn?“ frage ich. „Ach Scheiße, alles Scheiße“ bricht es aus ihr
heraus. Ich muss fast lachen. Das war so ehrlich und direkt. Typisch Frau Köber,
wenngleich sie dieses Wort früher nie benutzt hätte.
Sie kann nicht genau formulieren, was gerade schwer erträglich ist, aber ich
verstehe schon.
„Ach, Mensch, Frau Köber, ich glaube es Ihnen“ sage ich und denke „Was aus uns
werden kann. Menschsein hat so viele Facetten.“
Dann umarmen wir uns und mir treten auch die Tränen in die Augen. So halten wir
uns einen Moment. „Gott segne dich.“ flüstere ich ihr zu.
Als ich mich später verabschiede, geht ihr Blick ins Leere, sie ist schon wieder in
einer anderen Welt. Aber der Segen, der Segen, der bleibt.
Pfarrerin Christina Lang, Ev. Kirchengemeinde Naumburg


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