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04.04.2023
Weil unsre Augen sie nicht seh´n

Manchmal sind die Dinge anders, als es scheint.

Er war Rentner. Obwohl, so sagten es einige, er noch gar nicht so alt war. Also vielleicht Frührentner. Jedenfalls: Sehr verlässlich ab morgens um sieben schon: Fenster auf, Kissen raus und gucken. Kalli wusste immer Bescheid. Er hatte Überblick. Ein Pläuschchen hier, ein mitgehörtes Gespräch da. Kalli war der Dorffunk. Er konnte sagen, was so los ist. 

Und Kalli hat sich halt auch gerne eingemischt. Die jungen Frauen angemacht, wenn er fand, dass ihre Röcke zu kurz waren, Anzeige erstattet, wenn jemand ohne Kennzeichen herumgefahren ist und gebrüllt, wenn jemand den Müll in die Tonne der Nachbarn gekippt hat.

Beliebt war er nicht unbedingt.

Die Leute sagen, er hätte lieber was arbeiten sollen, statt die Nase in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken. Er bekam böse Briefe. Kein Wunder, dass er grillig wurde.

Irgendwann blieb das Fenster zu. 

Auf der Beerdigung waren sie dann alle. Macht man so.

Die Pastorin sagte: Kalli war Bergmann. Steinstaublunge. Wenn er keine Luft mehr bekam, half nur: Fenster auf, Sauerstoff. Das Leben hatte er sich anders vorgestellt, als mit 56 Rentner zu werden und mit dem Kissen auf der Fensterbank hängen zu müssen. Mit 62 dann: weg vom Fenster. 

So was wünscht man doch keinem, oder? 

Tja, hätte man das gewusst.

„So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil uns Augen sie nicht sehen“, heißt es in einem Lied. Und dann kommt der Wunsch, die Welt einmal aus Gottes Augen zu sehen. Die ganze Wahrheit. Der gütige Blick.

Ulrike Greim, Weimar, Evangelische Kirche.


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