Landesbischof Friedrich Kramer

Predigten, Reden, Statements


04.10.2022
Ökumenischer Gottesdienst Tag der Deutschen Einheit Hohe Domkirche St. Marien zu Erfurt

„Zusammen wachsen, um zusammenzuwachsen“: Predigt Landesbischof Friedrich Kramer zu 1. Petrus 2,1-3

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Festgemeinde!

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. AMEN

[ I Die friedliche Revolution und mit dem Fahrrad durchs Brandenburger Tor]

Eine Generation ist es her, dass wir die trennende Mauer eingerissen haben, von dort her, von wo sie erbaut worden war, vom Osten und knapp ein Jahr später stand die deutsche Einheit nach 41 Jahren staatlicher Trennung. Und so feiern wir heute einen Festgottesdienst am Montag den 03. Oktober. Lasst uns darüber freuen, dass wir dies erleben durften, dass wir diese Heilung unseres Volkes voll Freude feiern können.

Am 09. Oktober wird man in Leipzig mit einem großen Lichterfest der friedlichen Revolution und des 09. Oktober 1989 gedenken, an dem wir damals alle nach Leipzig geblickt haben. Bleibt es gewaltfrei? Das war die bange Frage. Hunderte von Montagsgebeten fanden damals in hunderten von Orten und Kirchen in der DDR statt und aus ihnen formierten sich oft die Montagsdemonstrationen, die zum Sinnbild der friedlichen Revolution geworden sind. Inzwischen wird an Montagen in unserem Land gegen Coronamaßnahmen, gegen Energiepreissteigerungen, gegen Sanktionen gegen Russland demonstriert und in einer Weise oft aggressiv und verachtend voll Bosheit und übler Nachrede gesprochen und gebrüllt, dass es wie ein Hohn auf die friedliche Revolution ist. Jetzt seit dem Krieg in der Ukraine finden auch wieder viele Montagsgebete in unseren Kirchen statt und diese stehen wahrlich in der Tradition der Friedlichen Revolution.

Heute an diesem Tag muss ich an den frühen Morgen des 10. November denken, als ich mit meiner Familie in Ostberlin wohnend plötzlich in Westberlin an der Mauer stand und die Leute am Brandenburger Tor auf der breiten Mauer davor feierten und lachten. Und wenn ich in Berlin bin dann fahre ich mit meinem Klapprad durch das Brandenburger Tor und freue mich, dass mich Gott dies hat erleben lassen.

[ II Ein Text zum Wachsen (Einleitung und Lesen des Predigttextes)]

„Keine Gewalt“ das ist der Konsens, der durch die friedliche Revolution in das neue Deutschland eingebracht wurde. Und es ist die Grundlage der Demokratie, denn nur in gewaltfreien Diskursen und Streiten lassen sich sinnvolle Lösungen finden. Und das ist in diesen Tagen wahrlich nicht einfach. Und so hören wir zwischen Feierfreude und Sorgen den Predigttext aus 1. Petrus 2,1-3: Petrus, Apostel Jesu Christi, an die auserwählten Fremdlinge, die in der Zerstreuung leben: So legt nun ab alle Bosheit und allen Betrug und Heuchelei und Neid und alle üble Nachrede und seid begierig nach der vernünftigen, lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, auf dass ihr durch sie wachset zum Heil, da ihr schon geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist. Ihr habt das Heil schon geschmeckt, das der Herr freundlich ist. Ja, so kann ich das als Christ sagen.

Wir haben das Heil geschmeckt in der friedlichen Revolution und in der Wiedervereinigung. Ich sehe dies als ein Geschenk Gottes und ein Zeichen dafür, dass der Herr freundlich ist. Denn das Evangelium Jesu ruft zur Gewaltlosigkeit und dieser Ruf: „Keine Gewalt“ hat aus den Kirchen auf die Straße gefunden. Und so floss kein Blut, sondern wir waren begierig nach der lauteren Milch, nach Wahrheit und Gerechtigkeit und Veränderung ohne Gewalt. Die Muttermilch braucht der Säugling, wie wir das Wort Gottes brauchen um zu wachsen hin zum Heil. Und weil Gottes Wort uns gestärkt hat, konnten wir wachsen im Mut und Gott hat das Gelingen geschenkt. Für viele hier im Osten Deutschlands und in Thüringen schmeckten die Jahre nach der Vereinigung nicht nach Milch und Honig, sondern gerade die Zeit der Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit, lässt heute noch vielen hier in Thüringen die Galle aufstoßen. Es wurde miteinander nicht nur gemeinsames Wachsen, sondern auch Bosheit, Betrug, Heuchelei, Neid und üble Nachrede erlebt – wechselseitig. Aber es gibt auch viele Geschichten des gelingenden Wachsens. Und alle diese Geschichten müssen wir uns erzählen, die vom Glück des Zusammenwachsens und die vom Unglück des Nichtwachsen, so wie wir sie vorhin gehört haben. Lasst uns unsere Geschichten erzählen und nicht in Bosheit und übler Nachrede über Ossis und Wessis die Galle verstärken, lasst uns dies ablegen und einander zuhören auf Augen- und Ohrenhöhe. In allem ist es ein Segen, dass die waffenstarrenden Blöcke, dass der kalte Krieg ein Ende fand. Ein Russe, Michael Gorbatschow hat aus tiefer Einsicht in die Absurdität des atomaren Wettrüstens einen Abrüstungsprozess in Gang gebracht hat, die uns Jahre des Friedens und Wohlstandes geschenkt haben. Abzurüsten war und ist richtig, wenn wir Frieden und Sicherheit wollen. Wir dürfen nicht zurückfallen in Bosheit, und üble Nachrede.

[ III Zusammenwachsen – Wie Bosheit überwunden wurde – Eine Tora für Thüringen]

Wir haben versucht, Bosheit und üble Nachrede abzulegen. Über Jahrhunderte waren wir Christen voller Bosheit, Gewalt und übler Nachrede gegen unsere jüdischen Geschwister. Wir haben Lügen über sie erzählt und sie verfolgt und bedrückt und damit den Boden bereitet für den mörderischen Antisemitismus der Nazionalsozialisten. Seit der Katastrophe der Shoa sind wir auf dem Weg der Umkehr und legen Bosheit und Betrug, Heuchelei und üble Nachrede ab. Im Reformationsjubiläums 2017 haben wir das Werk der Reformatoren gefeiert. Aber wir haben uns auch klar als Kirche von Luthers Antijudaismus distanziert und die dunkle Geschichte des Entjudungsinstitutes in Eisenach aufgearbeitet. Dann stand die Frage, wie wir ökumenisch etwas weitermachen können, und unser Landesrabbiner Alexander Nachama sagte, dass der Landesgemeinde Thüringen eine Tora-Rolle fehlt. Und so entstand die Idee, dass die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands und das Bistum Erfurt eine Tora-Rolle schreiben lassen und der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen schenken. Und so wurde der Rabbiner Reuven Yaacobov gewonnen, der ein Toraschreiber, ein Sofer, ist. Eine neue Torarolle wurde so über viele Monate geschrieben in wundervoller hebräischer Schrift. Mitten in Deutschland und mitten in Thüringen wurde das Schreiben der Tora öffentlich vollzogen und mit Veranstaltungen vielen Thüringerinnen und Thüringern jüdischer Glaube, Geschichte und Kultur nahegebracht. nnerhalb des Jahres „900 Jahre Jüdisches Leben in Thüringen“ fand das Projekt: „Tora ist Leben“ statt. Wie viele Torarollen wurden in Deutschland seit der Shoa neu geschrieben? Es ist die erste Torarolle, die die Kirchen schenken dürfen. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass dieses Geschenk angenommen wurde, nach all dem, was wir unseren jüdischen Gemeinden angetan haben. Durch das Ablegen von Bosheit, Betrug, Heuchelei, Neid und übler Nachrede gegenüber unseren jüdischen Geschwistern, sind wir zusammen gewachsen. Die Torarolle ist ein Zeichen für unsere Freundschaft und so steht auf dem Gewand der Tora: „Schau wie gut und angenehm ist es, wenn Brüder zusammen wohnen“ der jüdischen Landesgemeinde in Verbundenheit üereignet, Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, Bistum Erfurt. Und am Samstag, am Sabbat in dieser Woche wird diese Tora wieder aus dem Toraschrein genommen und im Gottesdienst in der Synagoge in Erfurt gelesen werden. Jüdisches Leben hat nicht nur eine große Geschichte in Thüringen, sondern gehört zu unserem Leben hier in diesem Land mit lebendigem Gemeindeleben, mit mehreren Festivals und vielen Begegnungen fest dazu. Wir sind als Kirchen und Gesellschaft hier in Thüringen fest entschlossen alles gegen üble Nachrede und Bosheit, gegen jede Form von Antisemitismus zu tun. Und das bleibt eine ständige Aufgabe für uns alle.

[ IV Zusammenwachsen – Milch statt Blut, Gewaltlos weiterwachsen]

Wie legt man Bosheit, Betrug und Heuchelei und Neid und alle üble Nachrede ab? Wir feiern heute einen ökumenischen Gottesdienst, und zwischen unseren Kirchen üben wir seit über hundert Jahren dieses Ablegen von Bosheit und übler Nachrede, und dass ich heute als evangelischer Bischof im katholischen Dom zu Erfurt predigen kann und wir in den Fürbitten mit den Christen aus der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen gemeinsam beten, so wir wir uns auch in diesem Jahr mit vielen verschiedenen Kirchen bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Karlsruhe getroffen haben, das zeigt, dass auch bei unterschiedlichsten Meinungen und Positionen ein gemeinsames Wachsen ohne Bosheit und Heuchelei möglich ist. „Keine Gewalt“ – so der Ruf auf den Straßen von 1989 und so soll es bleiben. Bei allen gegensätzlichen Meinungen und Positionen, wie wir die Folgen von Krieg und Krisen überwinden können. Auch wenn das wirtschaftliche Wachstum einbricht und viele vor großen und existentiellen Herausforderungen stehen, werden wir nur zusammenwachsen können, wenn wir Bosheit und üble Nachrede, Neid, - Heuchelei und Betrug ablegen. Wachstum zum Heil hin ist immer möglich, auch in schwierigsten Situationen, wenn wir zusammenstehen. Dazu brauchen wir die lautere Milch des Wortes Gottes. Der Krieg ist der Inbegriff der Bosheit. Hier nimmt das Böse Gestalt an. Blut statt Milch. Die Wahrheit und die Liebe werden im Geschosshagel zerfetzt begleitet von Heuchelei, Betrug und übler Nachrede. Dahinein dürfen wir uns nicht weiter ziehen lassen. Aber viele von uns sind zerrissen zwischen Hilfsbereitschaft und dem Wissen, dass Waffen und Gewalt keine Lösung bringen. Was geschieht mit der lauteren Milch des Wortes Gottes, wenn ich Waffen und Gewalt für diesen absoluten Ausnahmefall des Verteidigungskrieges der Ukraine zustimme oder diese Zustimmung verweigere? Wie kann die Bosheit und üble Nachrede wieder abgelegt werden, die die Herzen vergiftet? Wenn wir auf den Herbst und die kommenden Monate sehen, dann müssen wir bei der lauteren Milch des Wortes Gottes bleiben: „Keine Gewalt!“ – und einander zuhören ohne Bosheit und Neid. Möge Gottes Geist unsere Regierenden leiten und stärken.

[ V Schlusswort und Kanzelsegen]

Wir haben erlebt und geschmeckt, dass Gott uns gut ist und uns zum Guten führen will. So wollen wir uns heute voll Freude und Dankbarkeit daran erinnern. Er hat uns Heil und Heilung angeboten. Lasst uns diese immer wieder ergreifen, so wie das Kind immer wieder die Muttermilch braucht, um zur Ruhe, zum Frieden zu finden, auch wenn dies unsere Vernunft übersteigt. Und der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft Bewahre unsere Herzen und Sinne in Christi Namen AMEN

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