Predigt im Kantatengottesdienst 26.10.2025 St. Georgenkirche Eisenach Landesbischof Friedrich Kramer
Wann brannte zum letzten Mal dein Herz? Wann brannte es vor Liebe und du hast gespürt, dass du verbunden bist, dass da eine Kraft in dir ist, die mehr ist als du selbst?
Predigt im Kantatengottesdienst 26.10.2025 St. Georgenkirche Eisenach Landesbischof Friedrich Kramer
Es gilt das gesprochene Wort.
Gnade sein mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt, Christus Jesus. Amen
Wann brannte zum letzten Mal dein Herz? Wann brannte es vor Liebe und du hast gespürt, dass du verbunden bist, dass da eine Kraft in dir ist, die mehr ist als du selbst? Wann war es zum letzten Mal zu spüren, das Wehen des Heiligen Geistes in deinen Gedanken? Oder hast du dich eingerichtet? Weißt du schon, was kommt? Ahnst du schon, wie es ist? Sitzt du fest auf deinem Platz?
Manchmal, wenn ich durch eine Stadt gehe, sehe ich jemanden, der am Fenster guckt, von oben mit einem Kissen vielleicht im Fensterbrett, fest seinen Ort gefunden. Schauen, aber nicht teilnehmen. Ein fester Platz.
Wie bist du eingerichtet und wo bist du unterwegs? Unsere Zeit mutet uns Bewegung zu, die Komfortplätze sind Mangelware. Wir sind alle gezwungen, uns auf Neues einzustellen. Unser Predigttext erzählt: 38 Jahre, eine Ewigkeit, hat der Mann krank an den Platz gelegen am Teich Bethesda, kaum beweglich. Und er hat immer geschaut auf den Teich in der Mitte, denn es galt die Regel: Wenn der Teich und das Wasser sich bewegen, dann steigt gerade ein Engel Gottes ins Wasser und dann musst du hin. Und wenn du den Engel Gottes berührst, dann wirst du gesund. Aber er hat niemanden, der hilft.
Er kennt jede Säule, jeden Stein, er kennt jede Unebenheit, er sieht, wie der Boden verschmutzt ist und wieder gesäubert wird. Er weiß, welche Teile der Halle am Morgen im Sonnenlicht beleuchtet werden und welche am Abend. Er hat sich alles 38 Jahre lang angeschaut. Und plötzlich tritt Jesus zu ihm und spricht ihn an und stellt eine freche Frage: „Willst du gesund werden?“ – Das finde ich für einen, der 38 Jahre lang krank ist, eigentlich eine Zumutung. Aber Jesus stellt sie, und damit stellt er die Frage an dich und mich, in welchen Krankheiten, in welchen Lähmungen richten wir uns ein und wo sind wir bereit, umherzugehen und aufzubrechen? Und dann sagt er: „Nimm dein Bett und geh umher!“
Im Griechischen steht da das schöne Wort „herumlaufen“, also ganz andere Dinge sehen. Und der Geheilte folgt ihm, er wird ins Leben geschickt, er wird mobil gemacht. Er soll herumlaufen und kann sich die Halle ansehen, wo er möchte.
Er kann endlich in den Tempel gehen, wo er immer schon hinwollte. Der Zuspruch Jesu gibt ihm die Möglichkeit, seine Umgebung neu zu erkunden, ungeahnte Perspektiven wahrzunehmen. „Nimm dein Bett und geh umher!“
Und so geht er los. Er läuft, spaziert, trifft die anderen Kranken und geht durch die fünf Hallen, die um den Teich gebaut sind. Die Fünfzahl steht biblisch für die Thora, das gute, lebensstiftende Ganze.
Die fünf Bücher Mose, die fünf Bücher der Psalmen, die fünf Steine Davids, die er sammelt, als er den Riesen Goliath niederstreckt. Die fünf Hallen im heutigen Predigttext stehen für die fünf Hallen der Thora. Ich bitte mal kurz, dass Sie sich mal umschauen in dieser Kirche.
Fällt Ihnen was auf? Fünf Hallen. Das hat man nicht umsonst gebaut. Wir sind hier sozusagen am Teich Bethesda. Diese Kirche erinnert an diese Geschichte, erinnert an die Thora, erinnert an die fünf Bücher der Psalmen. Das ist die gute Lebensordnung. Und all die Kranken, Blinden und Lahmen, Ausgezehrten, die Dahingestreckten, alle, die unter Leiden leiden und die Mangel haben, bleiben innerhalb dieser Lebensordnung.
Aber sie schaffen es nicht, sie sind gelähmt. Sie haben niemanden, der ihnen hilft, dass sie in diesen Hallen Freiheit und Gotteswillen in ihr Leben sinnvoll integrieren können. Das Wasser in der Mitte der fünf Hallen der Thora ist das lebensspendende Wasser. Die Berührung mit diesem Wasser heilt den Menschen. Und so heißt es in Psalm 1: „Wer Lust hat am Gesetz des Herrn“, so heißt es, „wer Lust hat am Gesetz des Herrn, der ist wie ein Baum gepflanzt an den Wasserbächen“.
Das Wasser wirkt jedoch nicht, wenn es spiegelglatt ist, sodass man sein eigenes Angesicht darin bewundern kann und nur sich selbst sieht, sondern nur, wenn es sich bewegt.
Und diese Bewegung ist eine, die Wellen schlägt. Diese Bewegung geschieht durch den Engel, heißt es in der Tradition, oder durch den Heiligen Geist. Bewegung des heilenden Wassers, das von Gott gegeben ist, das Wasser, das uns wie auch das Wort Jesu heilt und uns zur Beweglichkeit befähigt.
Und wir stehen hier an dem Wasser. An dem Taufstein feiern wir das Bachfest und feiern wir auch 100 Jahre Bachchor heute, nämlich am Taufstein von J.S. Bach und all der anderen, ich hoffe auch vieler aus dem Chor und hier vieler in diesem Gebäude, die an diesem Wasser getauft wurden, das sich bewegt. Wenn wir taufen, muss das Wasser bewegt werden, auf das der Geist lebendig in unsere Herzen und Sinne fahren kann. Der „Heilige Geist“, so heißt er bei uns im Deutschen und es gab im Mittelalter bei der Übersetzung einen heftigen Streit:
Soll man es „Heiliger Geist“ nennen oder „Heiliger Odem“, also Heiliger Atem? Beides ist im Griechischen und Hebräischen denkbar. Und ich bin heute für Heiliger Odem, weil das passt viel besser zu 100 Jahre Bachchor. Denn wenn ein Heiliger Odem hier immer wieder erklingt, dann ist es der aus Ihren und Euren Kehlen:
wenn ihr Gott lobt, wenn ihr die wundervolle Musik im 5. Evangelisten Johann Sebastian Bach zum Klingen bringt, wenn das die Herzen erreicht, wenn es uns aufstehen lässt von unseren Lagern, auf denen wir gekettet sind, wenn die Tröstung uns erreicht und wir unser Bett nehmen können und herumlaufen. Ja, das ist wahre Heilung, wenn durch Eure Stimmen die Herzen bewegt werden. Und so feiern wir heute 100 Jahre Erste Probe. Das finde ich ein schönes Datum, denn es fängt immer mit den Proben an, ehe man schön singen kann. Und wir feiern 30 Jahre lang Mauersberger Kantorat, zuerst durch Rudolf Mauersberger, dann durch Erhard Mauersberger, die ja zum einen den Kreuzchor oder den Thomanerchor dann später geleitet haben. Was für eine Musik, was für eine Kraft in 100 Jahren.
Und ich komme als Landesbischof der Mitteldeutschen Kirche ganz ausdrücklich, um zu gratulieren: Herzlichen Glückwunsch für Eure 100 Jahre. Und auch herzlichen Glückwunsch zur Medaille, zur Zelter-Medaille der höchsten Auszeichnung für Amateurchöre, die im August hier übergeben wurde.
Der Geist, der heilige Oden. Wir bewegen uns in den fünf Hallen, die stehen für das Wort Gottes, die Weisung Gottes, das Gesetz. Und die Fähigkeit, dieses lebendig zu machen, bewirkt der Heilige Geist.
Die Texte in unserer Bibel sind wie das Wasser. Die Texte der Heiligen Schrift sind wie das Wasser, wenn sie in Bewegung geraten. Dann schlagen sie Wellen auch in deinem Leben. Sie sind kein spiegelglattes Wasser, in dem du dich nur selbst siehst, sondern sie kommen in Bewegung und wollen dich Gott sehen lassen.
Wollen, dass du dich in Gottes Reich hineinbegibst, dass du deine Perspektive wechselst, dass du herumläufst und schaust, was Gott alles noch mit dir vorhat.
Wie reagieren eigentlich die Umstehenden, als der Geheilte plötzlich mit seinem Bett herumläuft? Ein Mensch, der 38 Jahre lang in Bethesda lag, läuft umher. Das ist eigentlich eine Sensation und eine Titelseite für die Sensationszeitschriften.
Doch niemand begreift das lebensschenkende, befreiende Wunder. Es spielt in dem Text eine erstaunlich geringe Rolle bei den Umstehenden. Es wird sogar systematisch ausgeblendet.
Zuerst sagen sie: Es ist Sabbat, du darfst nicht mit deinem Bett herumlaufen. Als ob die Heilung nicht ein Grund wäre, vor Freude am Sabbat Gott lobend herumzulaufen. Die neue Beweglichkeit soll sofort wieder eingeschränkt werden.
Dann antwortet aber der Geheilte: „Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh umher! Mit dieser Aussage werden sie sogar direkt auf die Heilung nochmal hingewiesen. Aber wieder keine Reaktion darauf.
Sie fragen nicht, wer ist der Mensch, der dich gesund gemacht hat, was ja eigentlich das Angemessene wäre, sondern sie fragen: „Wo ist der Mensch, der dir gesagt hat, nimm dein Bett und geh?“ Und sie merken, dass hier etwas in Bewegung geraten ist. Und sie erkennen nicht die befreiende Wirkung.
Vielmehr sind sie durch diese Bewegung verunsichert. Das, was hier geschieht, ist nicht, was sie erwarten. Der, der immer an der einen Stelle saß, läuft kürzlich umher, taucht mal hier mal dort auf, unerwartbar.
Es ist Sabbat, du darfst heute nicht umhergehen. Die Bewegung passt ihm nicht. Aber Jesus hat an anderer Stelle auch deutlich gemacht: Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat.
Veränderungen sind ja nicht gut, sagen sie, aber vielleicht doch lieber erst morgen. Und dann bleibt die Erkenntnis über das wunderbare Potenzial, das sich ihnen hier darstellt, noch ein drittes Mal aus. Als sie endlich erfahren, dass es Jesus war, der den Mann gesund gemacht hat, können sie sich wieder nicht freuen und Gott loben, sondern sie ärgern sich.
Sie ärgern sich erneut, dass die Heilung an einem Sabbat stattgefunden hat und wollen dem, der das getan hat, das Leben nehmen. Statt lebendiger Freude empfinden sie Hass, der sich in lebensvernichtender Energie äußert. Wir kennen diese Menschen in der Umwelt, die jede gute Nachricht in Misstrauen und Hass verwandeln können, die jede lebensbringende Neuheit in lebensvernichtende Energie umwandeln, die einfach nicht das Heilige und das Gute erkennen und praktizieren wollen, sondern immer bei dem bleiben, was sie für das Richtige halten.
Vorsicht in unserem Text, da fiel das Wort: Das sind die Juden. Jesus ist genauso Jude wie der Geheilte, alle sind da Juden. Und gerade hier in Eisenach warnen wir davor, die Falschen zu verdächtigen.
Ein Gesetz bestimmt das Leben, auf das schauen sie. Und sie sind so fixiert in ihrem Blick, dass sie das Neue, die Heilung, die Befreiung nicht fröhlich annehmen können. In unserem Text gibt es beides, es sind die statischen Hallen und es ist die Bewegung, was zusammenkommt. Das Gesetz, was klar den Rahmen gibt, die Gebote, Gottes Wort, die Heilige Schrift und die Bewegung, die darin ermöglicht wird. Beides braucht es. Und am Ende der Erzählung steht der Mann plötzlich im Tempel, er wusste eigentlich nicht, wer ihn geheilt hat.
Das war so wie en passant passiert, denn als er sich umsieht, war Jesus schon wieder weg. Aber er entdeckt im Tempel wieder Jesus. Und über dem Tempel heißt es beim Propheten Ezechiel: „Und an diesem Fluss werden allerlei Bäume wachsen und ihre Früchte werden nicht alle werden, denn ihr Wasser quillt aus dem Heiligtum.“
Es ist erst dort, dass der Mann Jesus wirklich erkennt. Vorher wusste er überhaupt nicht, wer ihn geheilt hatte. Aber in der Bewegung selbst, die vom Geist ausgeht, die von Christus ausgeht, entdeckt er und wird er in die Gegenwart Gottes geführt.
Und das Geschehene wird ihm zur Offenbarung. Und Jesus? Er fordert ihn auf, dabei zu bleiben, nicht wieder zurückzufallen: „Sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.“
So ist beides beieinander, das Evangelium und die Gebote. Das Gesetz Gottes ermöglicht uns ein lebenswürdiges Leben im Miteinander zu den Menschen und mit Gott. Und wir brauchen den Geist, der das Wasser bewegt, den Odem, der unsere Herzen erreicht, die Stimmen, die uns singen von der Liebe Gottes.
Wir werden es nachher in der wundervollen Kantate hören, die vom Heiligen Geist singt, die eine Pfingstkantate ist. Und dort heißt es im Choral: „Von Gott kömmt mir ein Freudenschein, wenn du mit deinem Äugelein mich freundlich tust anblicken. O Herr Jesu, mein trautes Blut, dein Wort, dein Geist, dein Leib und Blut mich innerlich erquicken.“
Gott will dich freundlich und liebevoll ansehen. Und er sieht dich an. Und die Frage ist: Kannst du deinen Blick heben? Kannst du ihm ins Angesicht schauen? Und kannst du dich ansprechen lassen? In der Kantate hören wir nachher einen Wechselgesang, so ganz typisch bei Bach: der Gesang zwischen Seele, des Einzelnen, also dir, und dem Bräutigam und Christus. Und dort kommt diese schöne Formel aus dem Hohelied der Liebe: „Ich bin dein und du bist mein.“ Im freundlichen Anblick, im Liebesblick gelingt die Heilung. Dort brennt das Herz. Öffne deine Augen für den Menschen um dich herum. Denn Christus ist dir näher, als du denkst.
Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne. In Christus Jesus.
Amen.