29.09.2021
Jüdische Landesgemeinde freut sich auf neue Tora-Rolle

Erfurt (epd). Die beiden christlichen Kirchen in Thüringen schenken der Jüdischen Landesgemeinde am Donnerstag eine neue Tora-Rolle. 

Die Freude darüber sei „so groß, dass dafür alle positiven Worte einsetzbar sind, die es nur gibt“, sagte Landesrabbiner Alexander Nachama dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Erfurt. Das Geschenk könne aber keine Entschädigung für die Geschichte sein, „sonst könnte ich die Tora-Rolle auch gar nicht annehmen“, fügte er hinzu.

Die Übergabe stellt einen der Höhepunkte des Themenjahres „900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“ dar. Es sei wichtig, dass sich die Menschen mit der jüdischen Geschichte gerade abseits der großen Städte auseinandersetzen, erklärte der 1983 geborene Geistliche. Dabei verwies er auf die 34 in Thüringen erhaltenen jüdischen Friedhöfe.

Nachama verteidigte die Zurückhaltung vieler Juden. Es gebe viele, die sagten, „ich bin jüdisch, ich gehe auch in die Synagoge, aber mich vor die Kamera zu stellen oder in bestimmte Formate zu begeben, nur weil ich jüdisch bin - nicht, weil ich etwas erreicht habe im Leben oder ich einen wichtigen Posten habe oder was auch immer - das mache ich nicht.“ Das könne er nachvollziehen, auch wenn er es bedauere.

Ein Grund dafür sei auch die gestiegene Aufmerksamkeit nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle mit zwei Toten im Oktober 2019. „Danach stand auch unsere Gemeinde plötzlich im Fokus der Öffentlichkeit. Wir haben jetzt die Polizei ständig vor der Tür, die Türen wurden ausgetauscht“, sagte Nachama. Er könne persönlich zwar nichts Negatives berichten, aber auch er höre ständig über antisemitische Vorfälle, über Menschen, die geschlagen würden, weil sie eine Kippa trügen.

In der aktuellen Debatte um die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft plädierte er für Pragmatismus. Als Mitglied der allgemeinen Rabbinerkonferenz stehe er für die Praxis, dass, wenn jemand einen jüdischen Vater habe und den Willen bekunde, Mitglied in einer jüdischen Gemeinde zu werden, relativ unkompliziert Lösungen gefunden würden. „Ich schicke niemanden weg“, sagte der Rabbiner.

Leider gebe es zu wenig Wissen über das breite jüdische Spektrum. Es sei positiv, „dass das Judentum viele Gesichter hat, es viele Strömungen und nicht nur den einen richtigen Weg gibt“, erklärte er. Auch wenn der Rabbiner einen großen Einfluss habe, müsse die Tradition der Gemeinde geachtet werden. „Traditionen sind wichtig, da lege ich auch Wert darauf, aber es ist auch wichtig, offen für die Gegenwart und die Moderne zu sein.“ Für ihn sei dies kein Widerspruch.

Die Einbringung der Torarolle in den Toraschrein der Neuen Synagoge Erfurt wird ab 17 Uhr per Livestream übertragen: https://youtu.be/6pU5VpZeTYE

 

"Ich schicke niemanden weg" | Thüringer Landesrabbiner freut sich auf neue Tora

epd-Gespräch: Dirk Löhr

Erfurt (epd). Die beiden christlichen Kirchen in Thüringen schenken der Jüdischen Landesgemeinde eine neue Tora. Die Freude darüber sei „so groß, dass dafür alle positiven Worte einsetzbar sind, die es nur gibt“, sagt Landesrabbiner Alexander Nachama im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Thüringen gedenkt dieser Tage 900 Jahre jüdischen Lebens, bundesweit sind es sogar 1.700 Jahre. Wie erleben Sie die damit verbundene Aufmerksamkeit?

Nachama: Mit der Aufmerksamkeit ist das so eine Sache. Nach dem Anschlag von Halle stand auch unsere Gemeinde plötzlich im Fokus der Öffentlichkeit. Wir haben jetzt die Polizei ständig vor der Tür, die Türen wurden ausgetauscht. Ich kann persönlich, Gott sei Dank, nichts Negatives berichten. Aber auch ich höre ständig über antisemitische Vorfälle, über Menschen, die geschlagen werden, weil sie eine Kippa tragen. Das ist eine Seite...

epd: ...und die andere?

Nachama: ...die Freude darüber, dass die Menschen sich mit der jüdischen Geschichte ihres Landes auseinandersetzen. Das ist sehr wichtig, gerade abseits der großen Städte. Denken Sie nur an die 34 jüdischen Friedhöfe in Thüringen, die ja auch vom Leben der Menschen berichten, die dort bestattet wurden.

epd: Das Thüringer Themenjahres wollte auch auf heutiges jüdisches Leben schauen.

Nachama: ...was im Vergleich zu früher bescheiden ausfällt.

epd: Weil die Thüringer Juden zu zurückhaltend sind und lieber unter sich bleiben?

Nachama: Wir sind ein Teil der Gesellschaft. Aber leitet sich daraus auch eine Pflicht ab, sich nach außen zu präsentieren? Es gibt viele, die sagen, ich bin jüdisch, ich gehe auch in die Synagoge, aber mich vor die Kamera zu stellen oder in bestimmte Formate zu begeben, nur weil ich jüdisch bin - nicht, weil ich etwas erreicht habe im Leben oder ich einen wichtigen Posten habe oder was auch immer - das mache ich nicht. Das kann ich nachvollziehen, auch wenn ich es bedauere.

epd: Die Gemeinde wird kleiner?

Nachama: Bei allen Religionsgemeinschaften gehen die Mitgliederzahlen zurück. Bei uns liegt das vor allem an der Alltagsstruktur. Aus privaten Gründen, das hat etwas mit dem Studium oder dem Beruf und nur wenig mit Antisemitismus zu tun, gehen die Jüngeren meist in größere Städte, nach Berlin, Frankfurt oder Hamburg. Wenn ich mich mit meinen Kollegen Bischöfen unterhalte, geht das denen ja nicht anders.

epd: Was können Sie gegen den Mitgliederschwund unternehmen?

Nachama: Ich war früher auch oft der einzige Jugendliche und man hat sich gefragt, was wird in zehn Jahren sein? Irgendwie kommt mit dem Alter mehr das Bedürfnis nach Gemeinschaft und religiösem Halt. Gerade dieses Jahr hatten wir zwei Bar Mitzwas, was ziemlich viel für uns ist. Die Familien kommen halt nicht von allein auf die Idee, etwa eine Bar Mitzwa zu feiern. Man muss sie ansprechen. Das ist ein Unterschied zu früher, als die Leute so traditionell waren, so etwas von allein zu machen. Inzwischen versuchen viele jüdische Gemeinden, Familien über ein attraktives Programm mehr einzubinden.

epd: Auch mit einem Kindergarten oder einer Schule?

Nachama: Schule ist leider aussichtslos. Die Idee eines Kindergartens lebt noch. Wir sind, mal wieder, im Gespräch mit möglichen Partnern.

epd: Gerade gibt es eine große Debatte darüber, ob Menschen, die nur einen jüdischen Vater haben, Juden sein können. Das jüdische Gesetz ist da sehr eindeutig und schreibt ja eine jüdische Mutter vor.

Nachama: Ich bin Mitglied der allgemeinen Rabbinerkonferenz. So lange ich dort Mitglied bin, mindestens acht Jahre, wird es so praktiziert, dass, wenn jemand einen jüdischen Vater hat, und den Willen bekundet, Mitglied in einer jüdischen Gemeinde zu werden, relativ unkompliziert Lösungen gefunden werden. Es bedarf natürlich eines Nachweises über den jüdischen Vater - aber das ist bei einer jüdischen Mutter auch so. Das ist nicht vergleichbar mit einem Mann oder einer Frau, die zum Judentum übertreten wollen und gar keinen jüdischen Hintergrund haben.

epd: Ein Nachweis und das war es?

Nachama: Es gibt gewisse Mindestvoraussetzungen, etwa dass Männer beschnitten sind oder dass Männer und Frauen nach dem Gespräch vor dem Rabbinergericht in die Mikwe, das rituelle Bad gehen. Solche Sachen müssen erfüllt sein. Dann gibt es eine Urkunde, auf der drei Rabbiner unterschrieben haben.

epd: Wenn also an Ihre Tür geklopft wird...

Nachama: ...schicke ich niemanden weg. Leider ist zu wenig über das breite jüdische Spektrum bekannt. Es ist aus meiner Sicht positiv, dass das Judentum viele Gesichter hat, es viele Strömungen und nicht nur den einen richtigen Weg gibt.

epd: Einen Weg, den der Rabbiner für die Gemeinde vorgibt?

Nachama: Der Rabbiner hat schon einen großen Einfluss. Aber er muss die Tradition der Gemeinde achten. Etwa, dass hier in Erfurt Männer und Frauen in der Synagoge getrennt sitzen. Traditionen sind wichtig, da lege ich auch Wert darauf, aber es ist auch wichtig, offen für die Gegenwart und die Moderne zu sein. Für mich ist das kein Widerspruch.

epd: Am Donnerstag schenken die beiden Thüringer christlichen Kirchen der Landesgemeinde eine neue Tora. Wie groß ist die Freude darüber?

Nachama: So groß, dass dafür alle positiven Worte einsetzbar sind, die es nur gibt. Das ist ein großer Tag für die jüdische Landesgemeinde. Wir nehmen dieses Geschenk der beiden Kirchen gerne und mit großer Freude entgegen.

epd: Was bedeutet das Geschenk für Ihren Alltag?

Nachama: Wir haben im Moment zwei koschere Tora-Rollen. Aber man braucht im Gottesdienst manchmal drei Tora-Rollen. Zum Beispiel am Tag der Tora-Freude, wenn aus drei verschieden Stellen Texte gelesen werden. Bisher mussten wir immer ein wenig improvisieren und vor und zurück rollen. Aber im Gottesdienst soll die Gemeinde nicht warten. Jetzt können wir direkt von einer Lesung zur nächsten übergehen.

epd: Die Übergabe der Tora folgt auf das öffentliche Schreiben des letzten Buchstabens vor der Erfurter Staatskanzlei. Danach wird sie mit einem Festumzug singend und tanzend in die Synagoge gebracht?

Nachama: Wir wollen das nicht verklären. Wir tragen die Tora-Rolle von der Staatskanzlei herüber, aber es wird sicher nicht die ganze Zeit getanzt. Da sind wir wieder bei den verschiedenen Strömungen. Was sie vor Augen haben, betrifft eher die Chassiden. Die tanzen viel und gern. Wir werden Musik haben, ja, vielleicht wird auch ein bisschen getanzt.

epd: Der Tag der Übergabe fällt auf den 80. Jahrestag des Massakers von Babi Jar, bei dem am 29. und 30. September 1941 etwa 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder in einer Schlucht bei Kiew von der Wehrmacht erschossen wurden. Können Sie an diesem Tag dennoch feiern?

Nachama: Im Judentum ist Gedenken wichtig. Das bedeutet aber nicht, dass man sich nicht am gleichen Tag auch erfreuen kann. Es gibt wenige Trauertage im jüdischen Kalender, die sind dann auch meist gebündelt und berücksichtigen mehrere traurige Ereignisse. Die jüdische Geschichte ist leider so voll an Negativem, da stünde sonst jeden Tag etwas an. Der Alltag soll aber Freude machen. Ich werde oft gefragt, ob das Geschenk eine Entschädigung für die Geschichte darstellt. Nein, denn sonst könnte ich die Tora-Rolle auch gar nicht annehmen. Ich kann keine Entschädigung oder Wiedergutmachung oder Kompensation annehmen. In Anbetracht der Geschichte, dass die Kirchen sich nicht für die Juden eingesetzt haben, ist das Geschenk aber doch ein schönes Zeichen für die Zukunft. So eine Tora-Rolle soll noch in Jahrhunderten genutzt werden. Mögen die Kirchen so lange auch an der Seite der Juden stehen.

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