02.09.2020
Überlebende sagen im Prozess gegen Synagogen-Attentäter aus

Magdeburg (epd). Gemeinsam wollten sie Jom Kippur feiern, zusammen in der Synagoge in Halle beten, doch sie wurden Zeugen eines der schlimmsten antisemitischen Attentate der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Mit emotionalen und bedrückenden Worten schilderten mehrere Juden, die diesen Anschlag überlebten, am Dienstag vor dem Oberlandesgericht Naumburg die Ereignisse am 9. Oktober 2019. Zugleich blickten sie aber auch in die Zukunft und demonstrierten Stärke: "Jüdisches Leben wird wachsen. Ich habe keine Angst. Wir sind laut und werden gehört", sagte ein 33 Jahre alter Rabbiner vor Gericht in Magdeburg. Mehrfach gab es sogar Applaus aus den Reihen der Nebenkläger und des Publikums für die Zeugen, was bei Gerichtsprozessen eher nicht üblich ist.

Zum höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, hatten sich 52 Gläubige in der Synagoge versammelt, die der Angeklagte Stephan B. stürmen wollte, um möglichst viele von ihnen zu töten. Eine 20-köpfige jüdische Gruppe war für Jom Kippur extra aus Berlin angereist, da sie nicht in einer vollen Synagoge in der Großstadt, sondern außerhalb feiern wollte, auch um eine kleinere Gemeinde zu unterstützen. Zu ihnen gehörte auch der Rabbiner mit seiner Frau und seiner 15 Monate alten Tochter. Eine 30-Jährige berichtete von einem lauten Knall während des Gebetes. Es habe Aufregung gegeben, dann habe jemand gerufen: "Lauft, lauft, schnell."

Dass jemand auf die Synagoge schießen würde, sei ihr abstrus vorgekommen. Die Zeugin sagte: "Ich konnte mir das nicht wirklich vorstellen." Sie beschrieb, dass sie noch lange in der Synagoge waren. Sie hätte erwartet, dass wenigstens ein Polizist zur Kommunikation in die Synagoge kommen würde. Der Rabbiner sagte, von Seiten der Polizei hätte er mehr Verständnis erwartet. So hätten sie später sehr lange im Bus gesessen, ungeschützt den Kameras der Presse ausgesetzt, und es habe Diskussionen um die Mitnahme des koscheren Essens gegeben. Man sei mehr wie Verdächtige behandelt worden.

Ein 32-Jähriger, Vorbeter in Halle, sah die Bilder der Überwachungskamera und die getötete 40 Jahre alte Passantin: "Jeder Schuss war wie ein Schuss ins Herz." Er sagte, er habe dieses Land, diese Kultur immer gegen Vorurteile verteidigt. An diesem Tag sei seine Welt erschüttert worden. Aber die vielen Menschen, die am Freitag nach dem Attentat eine schützende Menschenkette vor der Synagoge bildeten, hätten ihn wieder bestärkt. An den Angeklagten gerichtet sagte er: "Ich bleibe hier, ich werde eine Zukunft aufbauen. Du musst für den Rest deines Lebens damit klar kommen, was du getan hast. Es hat nichts gebracht."

Die 30-jährige Zeugin berichtete von Schuldgefühlen, die sie plagten: "Ich komme nicht darüber hinweg, dass zwei Menschen an meiner Stelle tot sind." Eine 32-jährige in Berlin lebende Amerikanerin, deren Großvater den Holocaust überlebte, sagte, der Attentäter habe sich mit den Falschen angelegt. Für sie ende es heute hier. Das Gericht nahm zudem das Video der Überwachungskamera in Augenschein, das den Attentäter vor der Synagoge zeigt, wie er versuchte, mit Sprengsätzen und Schusswaffen in die Synagoge zu gelangen.

Die Bundesanwaltschaft hat Stephan B. wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in mehreren Fällen sowie weiteren Straftaten angeklagt.

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