15.04.2021
"Unser Rechtsstaat erkrankt" | Thüringer Opferberatung "ezra" sieht anhaltendes Ausmaß rechter Gewalt

Erfurt (epd). Das Ausmaß rechter Gewalt bleibt in Thüringen aus Sicht der Opferberatung "ezra" trotz leicht gesunkener Fallzahlen hoch.

Dafür trage auch die Justiz des Landes mit verschleppten Verfahren und der immer wieder zu erlebenden Straflosigkeit von Neonazis die Verantwortung mit, sagte Projektkoordinator Franz Zobel bei der digitalen Vorstellung der zehnten "ezra"-Jahresstatistik am Mittwoch in Erfurt. Die fehlenden Konsequenzen für die Täter führten bei den Opfern vielfach zu Resignation.

Als bekanntestes Beispiel nannte er den Ballstädt-Prozess, bei dem die Betroffenen seit mehr als sieben Jahren vergeblich auf eine rechtskräftige Verurteilung warteten. 2014 war in dem Dorf im Landkreis Gotha eine Kirmesgesellschaft überfallen worden. Die rechtsextremen Täter waren zwar 2017 vom Landesgericht Erfurt zu Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt worden, der Bundesgerichtshof hatte die Entscheidung aber wegen Formfehlern in der schriftlichen Urteilsbegründung Anfang 2020 kassiert.

Besondere Brisanz erhalte der Fall dadurch, dass bei einer Razzia im rechtsextremen Milieu Ende Februar auch das "Gelbe Haus" in Ballstädt durchsucht wurde, das 2014 Ausgangspunkt für den Überfall war. Die bekannten Rechtsextremen hätten in der Zwischenzeit ihren "kriminellen Geschäften" weiter nachgehen können, kritisierte Zobel. Die Verstrickung in die "organisierte Kriminalität" müsse bei der für Mai avisierten Neuauflage des Verfahrens beachtet werden. Auf keinen Fall dürfe es zu einem Deal kommen, bei dem im Gegenzug für Geständnisse bereits Bewährungsstrafen in Aussicht gestellt worden sein sollen.

Diese Sicht wurde von zwei Betroffenen des Überfall nachhaltig unterstützt. Es sei unerträglich, im Dorf den selbstbewusst auftretenden Tätern zu begegnen, sagte Sophia - der Namen wurde von "ezra" verändert - in einer Audiobotschaft. Sie seien offenbar sicher, keine Konsequenzen für ihre Taten fürchten zu müssen. Sie forderte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) und Justizminister Dirk Adams (Grüne) zum Handeln auf.

Ähnlich äußerte sich Martin (auch dieser Name wurde geändert). Dem Dorf sei mit dem Überfall die Unbeschwertheit genommen worden. Unter den Opfern wachse die Wut darüber, dass der Rechtsstaat es nicht schaffe, für Gerechtigkeit zu sorgen. Ein Verweis auf personelle Engpässe in der Justiz überzeuge nicht. In der Pflege fehlten auch Mitarbeitende, und dennoch würden die Kranken nicht alleingelassen, sagte Sophia. "Unser Rechtsstaat erkrankt", fügte sie hinzu

Die Opferberatung "ezra" hat im vergangenen Jahr 102 rechte, rassistische und antisemitische Gewaltstraftaten in Thüringen registriert. Von ihnen seien mindestens 155 Menschen betroffen gewesen, sagte Beraterin Theresa Lauß. Das am häufigsten aufgetretene Tatmotiv bleibe Rassismus (62 Fälle, 61 Prozent), gefolgt von Angriffen auf vermeintliche politische Gegner und Gegnerinnen (24 Fälle, 24 Prozent).

Seit April 2011 unterstützt "ezra" - das hebräische Wort steht für Hilfe - Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Träger ist die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Finanziert wird "ezra" über das Bundesprogramm "Demokratie leben!" und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit "DenkBunt".

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