16.07.2019
Predigt von Regionalbischöfin Pfrn. Dr. Friederike F. Spengler zum 80. Todestag von Paul Schneider - dem "Prediger von Buchenwald"

Lesung aus Matthäus 5,1-12
 

 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.

Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

 

Predigt:

Liebe Gedenk-Gemeinde, Schwestern und Brüder, Gäste und Freunde,

wir sind heute hier, an Zeugen der deutschen Vergangenheit der Jahre zwischen 1937 und 45 zu erinnern, als dieses Lager auf dem Ettersberg bei Weimar Konzentrationslager war. Und besonders benannt unter den Unzähligen, deren es zu gedenken gilt, sei hier und heute Paul Schneider. Den heutigen Gedenk-Tag begehen wir in ökumenischer Verbundenheit auch in Gedanken an Otto Neururer, seliggesprochen durch Rom im Jahr 1996, der hier 10 Monate nach Paul Schneider einen qualvollen Tod starb.

Wir gedenken Paul Schneiders. Und auch, wenn es von verschiedenen Priestern, Pfarrern und Rabbinen Hinweise darauf gibt, dass sie ihre Berufung im Konzentrationslager nicht aufgaben: Für Paul Schneider ist dies in so deutlicher und hervorgehobener Weise überliefert, dass er ausdrücklich der „Prediger von Buchenwald“ heißt.

Jemandes in solcher Weise zu gedenken, sie oder ihn herauszuheben aus einer Gruppe der Ungenannten, ist heikel. Wie will man dem Vorwurf der Willkür widersprechen? Wer erhebt sich zum Richter über ein Leben?  Welchen Maßstab legen wir an? – Keinesfalls den eines unhinterfragbaren Lebenslaufes, keinesfalls den für ein – wie auch immer – stilisiertes Heldentum. Otto Neururer und Paul Schneider haben es nicht nötig, dass wir ihrer gedenken. Es geht um uns! Wir brauchen ihre Geschichte! Mit dem nach Orientierung und Ausrichtung suchenden Blick sehen wir auf das Leben Paul Schneiders, auf seine Geschichte, die uns in unserer Geschichte etwas zu sagen hat.

„Als Jesus aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm.  Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind…“ Die so beginnenden Sätze gehören zu den bekanntesten Zitaten der Bibel. Vielen, auch Menschen, denen der christliche Glaube nichts sagt, sind diese Worte bekannt und wichtig. Richard von Weizäcker ging sogar so weit, dass er sich vorstellen konnte, mit diesen ein Land zu regieren. Die Eingangsworte der „Bergpredigt“, wie die Verse wegen des Ortes ihrer Premiere heißen, sind in hunderte Sprachen übersetzt, -zigfach vertont und künstlerisch dargestellt geworden. Was aber ist nun so besonders, was ist dran an diesen Sätzen? Was macht deren Eindrücklichkeit aus?

„Selig sind…“ Ein Lichtstrahl aus pechschwarzem Himmel. „Selig sind…“ Ein Becher Wasser für verdorrte Münder. „Selig sind…“ Eine Decke für Frierende. „Selig sind…“ Bettstatt für Erschöpfte, sicherer Ort für Geflohene und Vertriebene, ein Stück Heimat in der Fremde.

Martin Luther übersetzt „Selig“. Man kann den Begriff auch „glücklich“ heißen. Wer wird also selig/glücklich gepriesen? Menschen, die arm an Glauben und reich an leidvollen Erfahrungen sind. Solche, die sich nicht wehren können und ungerecht behandelt zu Opfern gemacht werden. Menschen, die ihrem Gewissen folgen und die den sie Schlagenden die andere Wange hinhalten. Jene, die als unverbesserliche Pazifisten an die Möglichkeit des Friedens glauben. Sie, denen Gerechtigkeit mehr bedeutet als der eigene Vorteil. Solche, die wegen ihrer Überzeugung grausam misshandelt oder um des Vorteils Dritter willen denunziert werden.

Jesus spricht: „Selig sind…“. Er sagt das Wort Gottes allen. Jeder kann es für sich hören. Ich stelle mir vor, wie sein Wort den Angesprochenen schon damals unter die Haut ging. Gottes Wort ist niemals „alltäglich“. Im Gegenteil – sein Wort widerspricht dem Erlebten und Erlittenen, widersteht der Gefallsucht menschlicher Redekunst, ist herausgehoben aus dem allgemeinen Gewäsch. Dabei leugnet das Wort nicht die Verhältnisse, aber es stößt die Faktizität von ihrem beharrlich verteidigten Thron, wenn es gewiss macht: Habt keine Angst: Nichts bleibt, wie es ist!

Als die Sätze der „Seligpreisungen“ im November 1938 hier an dieser Stelle laut zu hören sind, sind sie wie Lichtstrahlen aus schwarzdunklem Himmel, wie ein Becher Wasser für halb Verdurstete, wie eine Decke für Frierende, ein Bett für Erschöpfte, ein sicherer Ort, ein Stück Heimat. Die Sätze klingen so unwahrscheinlich in dieser Situation, dass man sich die Augen reiben und die Ohren freimachen muss. „Kann wahr sein, was ich höre? Bin ich im Wahn, dass ich mich angesprochen fühle?“  Gottes Zusage straft die Wirklichkeit Lügen. An jenem Abend im November 1938[1] und seitdem immer wieder. Unter strenger Bewachung, unter Gewalt und Erniedrigung, wurden gerade 9845 jüdische Bürger nach Buchenwald getrieben. Was sie hier hörten, war das entmenschlichte Gebrüll der Wachleute, das rasende Gekläff der Hunde, die wunden Schreie der Geschundenen. Bis sich dann, aus dieser Hölle, ein Wort herausschälte, so, als stünde die Wahrheit einzig und allein zwischen den Zeilen. Das Wort ist laut und deutlich hörbar: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich.“

Gottes Wort legt sich in die Situation hinein aus. Und so stehen in diesem Augenblick Hören und Verstehen, Angesprochenwerden und Angesprochensein in einer Unmittelbarkeit, die kaum zu fassen ist. Keiner muss etwas sagen, keiner die Auswirkungen erläutern, keiner die Verbindung klären. Ernst Cramer, 25 Jahre alt, jüdischer Zeitungsredakteur, von November bis Dezember 1938 hier im Lager gefangen gehalten, dann zur Auswanderung gezwungen, steht auf dem Appellplatz. Neben ihm Hunderte und Aberhunderte, die mit ihm antreten mussten. Keiner von ihnen weiß etwas von dem „Politischen Häftling 2491“ aus Block 22, dem Prediger von Buchenwald. Er ist es, der das Wort Gottes aus dem vergitterten Zellenfenster ruft, unterbrochen von seinen Schmerzensschreien. Die Aufseher quälen ihn auch heute, wollen ihn endgültig mundtot machen. Doch Gottes Wort stört das Diktat der Macht und die Logik der Machthaber. Es stellt sich quer und stellt damit alles infrage: Den Schwur auf das deutsche Wesen, an dem die Welt genesen soll, den Despoten, der sich Führer nennt, die todbringende Ideologie des sogenannten „Dritten Reiches“. So wie Gottes Wort bis heute alles infrage stellt, was nicht dem Gesetz seiner umfassenden Liebe folgt: unsere mitteleuropäische Überheblichkeit, den geizigen Reichtum, die Ignoranz, unsere Bequemlichkeit, den Drang zu Vereinfachung und Delegierung der Verantwortung auf andere, auf später, auf …. Damit wir uns aber von SEINEM Wort endlich wachrütteln und anfragen und neu ausrichten lassen, brauchen wir Vorbildgeschichten. Die von Paul Schneider ist eine davon.

Liebe Schwestern und Brüder, in der Vorbereitung auf diesen Gottesdienst und das Nachdenken über den Prediger von Buchenwald bin ich auf den Wochenspruch aus dem Brief an die Galater im 6. Kapitel gestoßen „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Beim Blick auf das, was wir heute aufgrund der vorzüglich aufgearbeiteten Quellen- und Datenlage über Schneider wissen, hat es für ihn keiner besonderen Aufforderung bedurft, diesen Satz mit Leben zu füllen. Von seinem aktiven Tun, von diesem Lasten-anderer-Tragen ist vor allem in den Zeitzeugenprotokollen immer wieder die Rede. Dankbar und voller Bewunderung erinnern sich ehemalige Häftlinge. Dabei wird deutlich: Paul Schneider verband Wort und Tat miteinander. Bereits in den ersten Monaten seiner sogen. „Schutzhaft“ im KZ war er im Steinbruch eingesetzt. Die Arbeit, die dort unter größtem körperlichem Einsatz geleistet werden musste, brachte viele Häftlinge an ihre Grenzen. Dazu musste die SS nicht mal den Finger krummmachen, das geschah sozusagen nebenbei, im Vollzug: Die stets unterernährten, unterkühlten, teilweise verletzten und immer durstigen Häftlinge einer so schweren Arbeit, wie dem Ziehen der Schienenwaggons auszusetzen, bedeutete, sie zu Tode zu schinden. Ein Brandenburger Pfarrer, selbst Mitglied der Bekennenden Kirche, beschreibt später, wie Schneider, der körperlich gesund und mit seinen 40 Jahren noch relativ jung war, jeden Freitag auf seine Essenration verzichtete und diese einem anderen Häftling zusteckte. Der bereits 14 Jahre ältere Häftling Moritz Zahnwetzer erzählt, wie Paul Schneider bei gemeinsamen Schachtarbeiten auf ihn und sein Arbeitstempo achtete und dann und wann selbst schnell mal mit der Schaufel aushalf. Wusste er doch, dass ein verlangsamtes Arbeiten oft sehr schnell zum Abzug des Häftlings führte. Und dass nach einem solchen nur selten einer lebend wieder gesehen wurde, sprach sich schnell herum. Ein verhafteter Notar, Alfred Leikam, später in Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt, fasste seine Erinnerung so zusammen: „Schneider hat seinen Beruf als Pfarrer den anderen Häftlingen gegenüber nie verleugnet; er versuchte, durch christlichen Zuspruch, Mahnung, Bitte, tätige Mithilfe seine Mitgefangenen für Christus zu gewinnen..“ – Wie schrieb Paulus an die Gemeinde in Galatien? „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ –

„Auf den gutgemeinten Rat von Häftlingen (…), sein lautes Beten in seiner Zelle zu unterlassen, um sich den Misshandlungen durch die SS zu entziehen, antwortete Schneider, dass er nicht anders könne. Er müsse den gefolterten und mitgefangenen Gequälten Trost zusprechen…“. Während der Zeit in der Dunkelarrestzelle, die er mit anderen Häftlingen teilte, hielt Paul Schneider jeden Morgen eine Andacht, für die er stets körperliche und psychische Misshandlungen erhielt. So kam eines Morgens nach der Andacht ein Lagerführer zu ihm und schrie in die Zelle „Ihre Frau ist mit ihrem jüngsten Kind tödlich verunglückt. Geht ihnen das nicht zu Herzen, Herr Pfarrer?“ und Schneider antwortete nach kurzem Nachdenken: „Gewiss, aber noch viel mehr bedrückt mich die furchtbare Behandlung der Häftlinge durch Sie.“ Schon allein beim Lesen dieser Zeilen wird mir bewusst, wieviel Kraft in dieser Art erlebbarer Brüderlichkeit steckte. Paul Schneider hatte die Gabe, das richtige Wort und die rechte Tat an der richtigen Stelle einzusetzen. Sein Mut zu Wort und Tat kamen teilweise in letzter Minute. So etwa für einen Häftling, der nach stundenlangem Stehen auf dem Appellplatz bis an die Grenzen des Vorstellbaren gedemütigt ohne jeglichen Funken Hoffnung oder Glaube war. Dieser wollte in diesem Augenblick das eigene Leid beenden und in den elektrischen Zaun rennen. Da hörte er, wie einer aus dem Fenster der Bunkerzelle laut rief: „Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis.“ Dieser Akt des Bekennens, des Mutes und Trostes, half dem Häftling – und nicht nur diesem einen – die Zeit im Lager zu überstehen. Ebenso wie Schneiders Willen, sich unter keinen Umständen, von Nichts und Niemandem den Rücken beugen zu lassen. Berichtet wird vom 20. April 1938, an dem über dem großen Tor eine Hakenkreuzfahne gehisst wurde. Alle Häftlinge waren gezwungen, an dieser vorbeizumarschieren und ehrerbietig die Mützen vom Kopf zu ziehen, um damit die Verbeugung vor Hitler zu bezeugen. Paul Schneider verweigerte diesen Gruß durch das Aufbehalten seiner Kopfbedeckung so deutlich, dass alle anwesenden Häftlinge wussten, wofür er die nächsten dreizehn Monate im Lagergefängnis die schrecklichsten aller auszudenkenden Bestrafungen erleiden musste.

Liebe Gedenk-Gemeinde, Schwestern und Brüder, Gäste und Freunde, das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Dass, was von Deutschland aus in der Welt und an vielen Orten in unserem Land Menschen angetan wurde, ist nicht in Worte zu fassen, es übersteigt alle Vorstellungskraft. Dass, was vor 80 Jahren Menschen wie Paul Schneider und Otto Neururer erleiden mussten, ist unvorstellbar.

Lassen Sie uns die Zeugnisse ihres Gottvertrauens mit in unsere Zukunft nehmen. Lassen Sie uns diese Geschichten uns zur Geschichte machen: Wir sind aufgefordert, von der Hoffnung zu reden, die stärker ist als der Tod; aufgerufen, im Anderen unbedingt und unter allen Umständen den Mitmenschen zu sehen, der in Gottes Augen wertvoll geachtet ist. Wir sind befähigt, Zeugen der Liebe Gottes zu sein, das Leben als Geschenk an alle Menschen und die Kreatur als uns anvertraute Schöpfung anzunehmen.

Lassen Sie uns die Zeugnisse ihrer Mitmenschlichkeit mit in unsere Zukunft nehmen. Lassen Sie uns diese Geschichten uns zur Geschichte machen: Gerade dann, wenn uns eingeredet wird, dass sich dieses und jenes nun mal nicht ändern lasse; wenn man uns weißmachen will, dass wir nicht für alle Menschen verantwortlich seien (da könnte ja jeder kommen…); gerade dann, wenn wir aufhören nachzufragen, was mit diesem und jenem geschah; wenn wir zu bequem werden, die eigenen Handlungsweisen kritisch zu reflektieren; wenn wir uns in die Tasche lügen, alles sei am Ende doch nur halb so schlimm. Ja, das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, aber Geschichte kann sich wiederholen! Und sie greift in unserer Gesellschaft erneut um sich: wo die Würde des Menschen nicht mehr außer Frage steht, sondern gemessen und gewogen, behandelt und hinterfragt wird… wo nationalsozialistische Zeichen, Symbole und Parolen großzügig interpretiert und geduldet werden, wo Hassparolen kultiviert bis in Regierungskreise zugelassen sind. Ein für alle Mal: niemals wieder: „Jedem das Seine!“  Sie greift in unserer Gesellschaft erneut um sich, wo der Holocaust – gerade wieder aktuell – öffentlich geleugnet wird. Die Botschaft muss deutlich sein – heute, am 80. Todestag von Paul Schneider: Wer Buchenwald, Sachsenhausen, Dachau, Flossenbürg, Mittelbau-Dora.., wer Auschwitz, Treblinka, Riga, Warschau…, wer die vielen Orte der Menschenverachtung, des Leides und des Todes von Millionen von Menschen leugnet, der leugnet die deutsche Geschichte.

Der Wochenspruch schreibt zum Gedenktag an Paul Schneider erneut seine Geschichte in unsere Geschichte. „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!“ Das soll Maßstab, unser Maßstab sein.

So sei es. Amen

 

[1] Alle hier aufgeführten historischen Belege sowie die gekennzeichneten Zitate aus den Berichten ehemaliger Häftlinge sind zu finden bei: Margarete Schneider, Paul Schneider. Der Prediger von Buchenwald. Neu herausgegeben von Els-Ulrike Ross und Paul Dieterich, Stuttgart 2014.


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