Freimut
Wenn ich am Abend oder am Wochenende mit der Straßenbahn unterwegs bin, passiert es immer wieder, dass ich erschrocken bin, wie erheblich alkoholisierte Männer und Frauen andere Mitfahrende laut anschreien, anfluchen und beleidigen – vor allem Frauen mit Kopftüchern und Mitmenschen, die eine andere Hautfarbe haben.
Eigentlich will ich dann etwas sagen, zucke aber oft zurück und warte, wie sich die Situation entwickelt. Ich habe auch schon den Notruf gedrückt, allerdings meistens ohne Erfolg, weil dann erst bei der nächsten Station der Fahrer reagiert. Ich wünschte, ich wäre mutiger, Doch ich habe Angst, dass ich selber angeschrien, angepöbelt oder von einer Flasche getroffen werde. Ich hätte gern – ja, dieses schöne alte Wort Freimut, – zu sagen: „Stopp, hören Sie auf, lassen Sie bitte die Person in Ruhe!“
Freimut ist ein sehr altes Wort, das wir in unserem Sprachgebrauch ja kaum noch kennen. Freimut ist, wenn ich den Mut aufbringe, etwas zu sagen, obwohl ich in der Tat manchmal auch mitbetroffen und mitverletzt werden kann. Es gibt eine schöne Stelle in der Apostelgeschichte des Lukas, wo es heißt, dass die Menschen den Freimut von Petrus und Johannes sahen und sich wunderten, denn sie merkten, dass sie ungelehrte und einfache Leute waren. Tatsächlich ist Freimut, der Mut, jemandem seine Meinung auch dann deutlich zu sagen, wenn es Konsequenzen mit sich bringt, nicht an ein akademisches Studium oder sonst wie gebunden. Petrus und Johannes waren keine Gelehrten. Aber sie haben mit Freude und Gewissheit über das gesprochen, was in ihrem Herzen lag, ihren Glauben an Jesus Christus. Ich wünsche mir solchen Freimut, sowohl wenn mich jemand fragt: „Was glaubst du?“, als auch in solchen aggressiven Situationen in der Straßenbahn. Dazu helfe mir Gott.
Johann Schneider, evangelischer Regionalbischof aus Halle