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16.05.2022
Russland

1939 wird mein Vater Soldat; freiwillig. Mit seiner Ju 52 fliegt er durch ganz Europa, auch bis Russland. Am Ende drei Jahre Gefangenschaft; Rückkehr in ein zerstörtes Land; sein Vater, mein Großvater, auf der Flucht gestorben; die Heimat verloren.

Vor Jahren besuche ich zum ersten Mal Russland; treffe auf kluge, kultivierte Kollegen im kirchlichen Dienst. Nur eine Generation nach meinem Vater werde ich freundlich empfangen. Als ich mit meinen Gesprächspartnern vertrauter werde, erzählen sie mir ihre Familiengeschichten – Kriegsgeschichten.

Ich halte mich zurück.

„Du kannst nichts dafür“, sagen sie und ich bin dankbar dafür.

Und nun ist alles anders.

Vor Wochen haben wir uns wiedergesehen.

Mein kluger, kultivierter Gesprächspartner erzählt mir seine Version des Krieges gegen die Ukraine.

Mich schaudert. Die Propaganda hat ganze Arbeit geleistet. Erneut halte ich mich zurück. Ich verstehe ihn nicht mehr. Ich erinnere ihn an die Toten und Verletzten, die Kinder, die nun keine Eltern mehr haben; die Eltern, die um ihre toten Kinder trauern.

Das schmerze ihn, sagt er; aber ich glaube es ihm nicht. Wir reden, aber wir verstehen uns nicht mehr.

Neben allen Toten, Verletzten, Traumatisierten, den unabsehbaren materiellen Schäden ist auch unsere Beziehung ein Opfer des Krieges.

Ich bete für meinen russischen Freund – er betet auch für mich; immerhin, aber seltsam, nicht wahr?

Nur das lässt mich hoffen, wir werden irgendwann wieder reden können.

Auch über den Krieg -  den damals und den heute.

Schmerzlich grüßt aus Dessau
Joachim Liebig


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