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10.11.2018
Schwester im Spiegel

Die Frau ist schon alt. Manchmal ist sie verwirrt, wenn ich ihr begegne. Sie wohnt in einem Pflegeheim. Dort wird sie gut versorgt. Die Mitarbeiterinnen kümmern sich. Ihre Tochter besucht sie, so oft es geht.

Wenn die alte Frau in den Spiegel schaut, denkt sie in letzter Zeit häufig: Da ist ja meine Schwester! „Liesbeth“, sagt sie, „was machst du denn hier?“

Und wenn ihre Tochter kommt, sagt sie: „Weißt du, wer mich besucht hat? Die Liesbeth war hier. Ich habe früher so viel mit ihr gelacht. Als junges Mädchen war sie mir immer etwas voraus. Als sie schon zum Tanz ging, musste ich noch zu Hause bleiben.

Und jetzt war sie heute schon wieder da und hat mich besucht. Ich freue mich so!“

Irgendwie ist das sehr traurig und irgendwie auch sehr schön.

So oft wie jetzt hat die alte Frau ihre Schwester Liesbeth lange nicht mehr gesehen. Inzwischen ist Liesbeth auch schon eine ganze Weile verstorben. Doch sie ist da - und sei es hinter einem Spiegel.

Da fängt die alte Frau plötzlich leise an zu summen. Ich erkenne das Lied: „Weißt du, wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt? … Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet an der ganzen großen Zahl …“

Nichts geht verloren, denke ich. Die Erinnerungen an das, was früher war, werden stärker im Alter. Und die Liebe bleibt, die ich empfunden habe und die mich einhüllt bis ans Ende.

Meint Hans-Jürgen Kant von der Evangelischen Kirche in Halle


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