Angebote zum Leben
Ich besuche die achtzigjährige Frau Schubert im Seniorenheim. In den Nachkriegsjahren ist sie aufgewachsen, hat die Zeiten des Mangels und der Suche nach Orientierung miterlebt. Die Kirche hat eine große Rolle gespielt, erzählt sie. „Die zehn Gebote mussten wir auswendig runterschnurren. Da stand Gehorsam an oberster Stelle, besonders den Eltern gegenüber. Viertes Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass dir`s wohl gehe und du lange lebest auf Erden.“
Frau Schubert seufzt. „Und das habe ich gemacht, jahrelang. Hab alles getan, was meine Eltern wollten: Schule, Ausbildung, Beruf. Auch wenn ich viel lieber was anderes gelernt hätte. Aber wenn es Gott doch so wollte.“ Noch ein Seufzer.
Erst viel später, bei einem Gemeindeseminar, hat Frau Schubert erfahren, dass man die Zehn Gebote auch anders verstehen kann. Der Pfarrer nannte sie „Angebote zum Leben“. Frau Schubert hat gelernt: Es geht dabei um Freiheit, nicht um Einschränkung und blinden Gehorsam. Auch beim Gebot, die Eltern zu ehren. Sie sollen im Alter nicht vernachlässigt werden und Respekt erfahren.
Frau Schubert hat ihr Leben nochmal umgekrempelt. Hat einen Beruf gelernt, der ihr Freude machte. Jetzt lebt sie im Heim. Und ist dankbar dafür. „Es geht mir gut hier. Ich habe Menschen um mich, die mir helfen. Die Zehn Gebote kann ich übrigens immer noch runterschnurren“, schmunzelt sie. „Aber für mich sind sie Angebote zum Leben geworden.“
Einen Sonntag voller Leben wünsche ich Ihnen! Cornelia Biesecke aus Eisenach, evangelische Kirche.