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27.10.2020
Warme Decke

Fünfundachtzig Jahre ist die alte Dame geworden. Ich besuche sie zum Geburtstag. Ihr Gesicht ist voller Falten und erzählt von einem bewegten Leben.

Sie hat wirklich viel erlebt. Als Kind die schlimme Zeit der Flucht aus der Heimat in Ostpreußen. Der schwierige Anfang in der neuen Heimat, hier in Thüringen. Von den Einheimischen oft misstrauisch als Umsiedler beäugt.

Doch es gab auch viel Gutes. Zum Beispiel ihren Hans, mit dem sie fast sechzig Jahre glücklich verheiratet war. Ihre Kinder, Enkel, inzwischen schon Urenkel. Die sie alle oft und gerne besuchen.

„Ich zeig Ihnen mal was,“ sagt sie und öffnet die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Über dem Bett hängt ein Bild. Darauf liegt in Kind in einem weißen Gitterbettchen. Um das Bett herum stehen hohe schlanke Gestalten. Engel. Darunter steht in geschwungener Schrift: „Abends, will ich schlafen geh, vierzehn Engel um mich stehn...“ Das kenne ich. Das ist der Abendsegen aus der Oper „Hänsel und Gretel“.

„Das Bild hab ich schon mein Leben lang,“ erzählt die alte Dame. „ Und für mich war dieses Bild mit den Engeln immer wie eine warme Decke. Die mich einhüllt und schützt, egal, was kommt. So geborgen wie dieses Kind habe ich mich immer gefühlt, wenn ich an die Engel gedacht habe.“

Wie die Engel sie wohl begleitet haben, zum Beispiel damals auf der Flucht? Vielleicht haben sie ihr trotz Kälte und Hunger einen guten Schlaf geschenkt? Ich weiß es nicht. Die alte Dame scheint es so zu fühlen. Ich kneife die Augen ein bisschen zusammen. Und da kann auch ich sie sehen: die Engel in ihrem Herzen


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