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11.03.2021
Zeit der Entgiftung

Als die Frau im ICE ins Großraumabteil kommt und sich an seinen Tisch setzen will, will er erst Nein sagen. Das ist doch zu dicht. Aber an den anderen Tischen sieht es nicht besser aus. Die Frau fragt ganz vorsichtig, ob das für ihn ok wäre. Sie setze sich auch auf Abstand. Er nickt. Und kommt sich blöd vor. Das wäre ihm früher nie passiert. Er ist eigentlich ein kommunikativer Typ und fährt gerne Zug. Und quatscht mit vielen. Aber jetzt fühlt er sich fast asozial. „Jeder Mensch, der sich neben dich setzt, ist der lebende Corona-Virus.“ Dass er das nur denken kann, befremdet ihn.

Die Pandemie ist ein schleichendes Gift auch für die Seele.

Gott, entgifte mich!

Es ist Fastenzeit.

Zeit der Entgiftung.

Sie sitzen sich also schräg gegenüber und gucken sich nicht an. Wie eine Glaswand ist dazwischen. Er schaut aus dem Fenster. Alles fliegt vorbei.

„Diese Zeit fühlt sich an, wie ein Vertrauensbruch,“ wird er abends der Kollegin am Telefon erzählen. „Die Basics rutschen weg. So ein Gefühl hatte ich seit der Wende nicht. Dass man die Sachen nicht mehr im Griff hat.“

„Vielleicht ist alles wie ein Spuk“, sagt sie „und Ende des Jahres ist es vorbei.“

„Ja. Wir werden dann wissen, dass man Menschen braucht zum Leben. Dass es allein nicht geht. Auch nicht digital verstärkt.“

Vielleicht hätte er mit der Frau im ICE einfach reden sollen, denkt er. Maskenmäßig vernuschelt, aber ehrlich.

Vielleicht hätte sie es auch gebraucht.

Bestimmt sogar.

Ulrike Greim, Weimar, Evangelische Kirche.


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